Sehnsüchtig (German Edition)
winzigen Balkon, obwohl es verdammt kalt ist. Der Aschenbecher auf ihrem Balkon überquillt vor Zigarettenleichen und die meisten davon sind von ihm. „Er raucht viel mehr als früher“, sagt sie zu Mascha. „Er raucht eigentlich ständig.“ Immer öfter fragt er statt nach einem Kaffee nach einem Bier. Und sie gibt ihm eins, obwohl sie es nicht gut findet, dass er tagsüber trinkt. Er ist immer noch ihr Kunde. Der Kunde ist König. Letzte Woche hatte sie dann zufällig vergessen, Bier zu kaufen und er musste mit Kaffee vorlieb nehmen.
„Er ist überarbeitet“, meint Mascha jetzt. Alys kaut an einem Fingernagel herum. Eine blöde Angewohnheit, die sie eigentlich losgeworden war. Der schwarze Lack blättert schon. „Sicher ist er überarbeitet. Aber das ist er seit ich ihn kenne ...“ Sie presst sich die Daumenkuppe zwischen die Augenbrauen während sie sich überlegt, wie sie es formulieren soll: „Irgendwie ist es mehr als nur überarbeitet – Du solltest ihn sehen ...“
Mascha sieht ungläubig aus. „Er sieht schlecht aus? Eliot?“
Alys winkt ab. „Er wirkt ... gehetzt. Und erschöpft.“ Manchmal hab ich Angst, dass er jeden Moment ohnmächtig wird. Mitten in meinem Wohnzimmer. Eliots Gesicht steht vor ihrem inneren Auge und ihr Bauch verkrampft sich. Seine Wangen sind schmaler geworden in den letzten Wochen, und er hat Ringe um die Augen, dunkel wie der Espresso in Maschas Tasse. Aber das Schlimmste ist, dass das Leuchten in seinen Augen erloschen ist. Sie funkeln nicht mehr vor Schalk. Sie weiss nicht, wann er es zum letzten Mal eine sarkastische Bemerkung gemacht hat. Oder er das dunkle Lachen hören liess, das ihr immer durch Mark und Bein ging. Sie vermisst es. Eliot ist anders. Sie vermisst den Eliot, den sie im November kennenlernte. „Er ist anders geworden“, sagt sie jetzt. Es war ein schleichender Prozess gewesen, aber in den letzten Wochen – seit dem Jahreswechsel – ging es plötzlich schnell. „Er ist anders“, wiederholt Alys. Und plötzlich kommt ihr das richtige Wort in den Sinn. Ausgebrannt . Er ist ausgebrannt.
*
Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Labilität, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, hohes Risikoverhalten (vermehrter Konsum suchtfördernder Substanzen, Sexualität), Nervosität, sozialer Rückzug, Resignation, Aggressivität ...
Die Worte verschwimmen vor ihren Augen. Es stimmt. Das stimmt alles. Irina wischt sich mit der Handfläche über das Gesicht. Aber es hilft nichts mehr. Die Tränen rollen bereits, all die heruntergeschluckten, verdrängten ... Sie klappt den Laptop mit Gewalt zu, erträgt die Webseite nicht mehr, die ihr in trockenen Worten um die Ohren knallt was mit Eli los ist. Oder was mit ihm sein könnte. Die Liste, mit der nüchternen Überschrift ‚Symptome’ . Noch hat ihr ja kein Mediziner die Diagnose bestätigt, die sie in den letzten Tagen und Wochen aufgestellt hat.
Erst hatte sie gedacht, es sei einfach nur Stress. Hatte ignoriert, was schon im Herbst begonnen hatte, irgendwann dann als er an ‚No way out’ zu arbeiten begonnen hatte. Dieses verfluchte Album mit diesem treffenden Titel. Kein Ausweg, kein Entrinnen. Gleich nach dem Durchbruch mit ‚Sehnsüchtig’ hatte er begonnen, daran zu arbeiten. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt für ein neues Album, sagte er. Dabei war ‚You don’t own me’ noch keine dreiviertel Jahre alt. Ich muss den Schwung ausnützen, Liebling. Ich habe so viele Ideen. Es hatte schon damals begonnen, schon irgendwann im Oktober. Er war zusehendes gereizter geworden. Hatte noch weniger geschlafen als sonst. Er hatte früher schon mal Stress gehabt. Viel gearbeitet. Zu viel. Nur diesmal hörte der Stress nicht auf. Er schrieb neue Songs, begann ‚No way out’ aufzunehmen, tourte gleichzeitig weiter, weil jetzt wollten ihn ja alle sehen, jetzt waren die Konzerte plötzlich ausverkauft und alle wollten ihn buchen, den neuen Shootingstar ...
Es war ein schleichender Prozess gewesen. Er war immer etwas weniger zuhause, ein bisschen ungeduldiger. Eine spitze Bemerkung da, eine Kopfwehtablette hier, zu viel Alkohol dort. Sie wegen einer Kleinigkeit angeschnauzt, sich später entschuldigt ...
Die Entschuldigungen waren weniger geworden, die Streitigkeiten nicht. Seit Jahreswechsel war es immer schlimmer geworden. Er denkt, sie weiss nicht, dass er ohne Schlaftabletten kaum mehr schlafen kann. Er denkt, er hätte sie unglaublich gut versteckt, hinter seinem Rasierwasser. Als ob sie die Schachtel nicht
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