Sehnsüchtig (German Edition)
unschlüssig in der Hand. Der eine Polizist hebt eine Augenbraue. Sie drückt Eliot weg. 5 entgangene Anrufe, steht auf dem Display, und sie sind alle von ihm. Sie hatte das Handy nicht gehört oder vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein beschlossen, es zu ignorieren. Ich kann nicht mit dir reden. Ich will nicht mit dir reden.
„Wollen Sie nicht rangehen?“, fragt der Jüngere. „Nein“, sagt sie. Ihre Stimme klingt belegt. Sie schiebt das Handy zurück in die Tasche und greift nach der Zigarettenschachtel. Dabei fällt ihr auf, dass ihre Finger zittern. Im Bahnhof darf man nicht rauchen aber hier unter den Arkaden schon. Das Feuerzeug tut unwillig, sträubt sich. „Darf ich?“, fragt der Ältere und nimmt es ihr aus der Hand. Er dreht das Rädchen und beim ersten Versuch entsteht eine Flamme. Er zündet ihr die Zigarette an. „Danke“. Sie nimmt einen tiefen Zug. Wieder klingelt das Handy. Wieder ist es Eliot. Scheisse. Sie denkt das Wort nur, spricht es nicht aus, holt das Handy aus der Tasche und stellt es auf lautlos. „Es ist wirklich alles in Ordnung“, sagt sie nochmals, „ich muss nur noch rasch in die Bahnhofapotheke und danach gehe ich nach Hause.“
„Wir begleiten Sie“, beschliesst der Ältere von beiden. Sie erwidert nichts darauf und raucht die Zigarette zu Ende. Ihr Gesicht ist jetzt trocken, die Haut unter den Augen spannt wie immer wenn sie geweint hat. Sie drückt die Zigarette im nächsten Aschenbecher aus und betritt die Bahnhofshalle, begleitet von den beiden Polizisten. Vor der Bahnhofsapotheke bleibt sie stehen und nickt ihnen zu. „Vielen Dank“. Sie klingt jetzt ruhig. „Keine Ursache“, sagt der Ältere. Einen Augenblick befürchtet sie, sie würden darauf bestehen, mitzukommen, aber das tun sie nicht. „Gute Nacht“, sagt sie und dreht sich um. „Auf Wiedersehen“, sagt der Jüngere.
Alys betritt die Bahnhofsapotheke. Die Apothekerin hinter dem Tresen sieht müde aus, kein Wunder, es ist etwa drei Uhr morgens. Das Neonlicht tut ihrem Gesicht keinen Gefallen, betont jede Kante, jeden Schatten. Sie muss etwa fünfzig sein, hat das blonde Haar sorgfältig zusammengebunden, ist dezent geschminkt. Alys schämt sich plötzlich für ihr verweintes Gesicht, für Lidschatten, Eyeliner und Wimperntusche, alles ist sicher verlaufen und lässt sie aussehen wie ein trauriger Panda. Hastig nimmt eine Packung Abschminktücher aus dem Regal und legt sie auf den Verkaufstresen. „Sonst noch etwas?“
Alys’ Zunge scheint streiken zu wollen, sie streicht sich eine regennasse Strähne aus dem Gesicht. „Ich brauche ‚die Pille danach’.“ Sie versucht, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Die Apothekerin behält ihren höflich-neutralen Gesichtsausdruck, aber Alys sieht, wie sie ihr verweintes Gesicht betrachtet, die nackten Beine, die gar nicht zum Wetter passen, der falsch zugeknöpfte Mantel. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Ist Ihnen etwas passiert?“
„Etwas passiert?“
„Hat Ihnen jemand wehgetan?“
Endlich begreift Alys. „Nein. Mir ist nichts geschehen.“ Die Apothekerin scheint ihr nicht recht zu glauben, in den grünen Augen schimmert Besorgnis. Sie fühlt ihr Handy in der Handtasche vibrieren. Er ruft wieder an. „Ich habe mich nur mit meinem Freund gestritten, wir hatten die Verhütung vergessen“, flunkert sie. „Sie müssen diesen Fragebogen ausfüllen.“ Die Apothekerin holt ein blaues Klemmbrett mit einem Fragebogen hervor und reicht es ihr zusammen mit einem Kugelschreiber mit dem Logo der Apotheke. „Sie können sich da drüben hinsetzen, wenn Sie wollen ...“
Alys setzt sich auf die Bank neben dem Gestell voller Prospekte und Werbekatalogen für dieses und jenes Medikament. Welches davon lässt einem wohl den grössten Fehler vergessen, den man je gemacht hat? Lässt einem vergessen, dass man all seine Prinzipien und Moralvorstellungen über Bord geworfen hat für einen Moment von gestohlener Leidenschaft? Wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen, sie beisst sich auf die Unterlippe, um nicht wieder loszuweinen. Sie kneift die Augen zusammen, um den kleingeschriebenen Fragebogen lesen zu können, der immer wieder vor ihrem Gesicht verschwimmt. Beginnt auszufüllen, beantwortet Fragen, ob sie das Präparat zum ersten Mal beansprucht, wie sie sonst verhütet oder welche Medikamente sie sonst nimmt. Keine. Bei der Frage nach dem Grund, warum sie die Pille danach braucht, zögert sie, die Kugelschreiberspitze schwebt dicht über dem Papier.
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