Sehnsüchtig (German Edition)
Hände schon zu zittern beginnen. Sie kennt das Gefühl, das ihr jetzt die Kehle zuschnürt, den Atem knapp werden lässt. Nicht weinen, nicht hier, atme, atme und geh, geh einfach. Sie kümmert sich nicht um den BH, nicht um die Strumpfhose, das dauert zu lange, findet aber ihr Kleid, schlüpft irgendwie hinein, kümmert sich nicht ums Zuknöpfen, packt mit der einen Hand ihre Jacke und ihre Handtasche, mit der anderen sammelt sie ihre Stiefel ein, auf dem Weg zur Tür macht sie einen Misstritt, ihr Knöchel knickt ein, sie beisst sich vor Schmerz auf die Lippen, nicht innehalten, einfach weg. Sie drückt mit dem Ellbogen die Türklinke hinunter, stösst die Tür auf und entwischt, eilt die Treppe herab, die Steinstufen kalt unter ihren nackten Füssen. Im Eingangsbereich knöpft sie endlich ihr Kleid zu, mehr schlecht als recht, irrt sich immer wieder im Knopf, dann ist es halt das falsche Loch, schlüpft in ihre Jacke, steigt in ihre Stiefel, drückt die Tür auf und flieht. Flieht die Gasse hinauf Richtung Innenstadt. Die Nacht ist kalt und unerbittlich an ihren nackten Beinen, es regnet. Alys rennt weiter, auf ihrem Gesicht mischen sich Regen und Tränen.
Sie rennt und rennt. Sie kümmert sich nicht darum, dass sie mitten in Pfützen tritt, das Wasser in ihre Stiefel schwappt, merkt nicht, dass es sich wie Eis anfühlt. Sie ignoriert den Schmerz in ihrer Seite, ignoriert, dass die Atemlosigkeit ihr die Kehle eng macht. Irgendwann erreicht sie den Hauptbahnhof. Erst unter den Arkaden vor dem Eingang hält sie inne, presst eine Hand auf ihren Bauch und krümmt sich zusammen, weil ihr vor Anstrengung übel wird. Dann kommt ein Schluchzer über ihre Lippen. Noch einer. Vorher waren ihr die Tränen lautlos über die Wangen gelaufen, der Fluchtinstinkt hatte die Verzweiflung in Schach gehalten. Jetzt fällt der letzte Rest Beherrschung in sich zusammen und Alys lässt sich gegen eine Säule sinken, einen Arm über dem Gesicht als könne sie sich so von der Welt abschirmen.
Irgendwann, sie könnte später nicht mehr sagen, wann es war oder wie viel Zeit vergangen ist, dringt eine Stimme zu ihr durch. „Entschuldigen Sie ...“ Sie lässt den Arm sinken. Nimmt verschwommen zwei Gesichter wahr. Wischt sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht. Zwei Männer, einer in ihrem Alter, der andere vielleicht Ende 30. Einen höflichen Ausdruck auf dem Gesicht, vielleicht gemischt mit etwas Besorgnis. Blaue Uniformjacken, dunkelblaue Hosen, schwere Stiefel. Ihr Blick fällt auf den Schlagstock und die Pistole am Gurt. Zwei Polizisten auf Streife. Irgendwie hat sie in ihren fast 28 Jahren noch nie mit einem Polizisten geredet, ausser vielleicht mit jenem, der vor sehr langer Zeit in den Kindergarten kam und ihnen beibrachte, wie man richtig über einen Fussgängerstreifen geht. Schauen. Hören. Gehen.
Sie versucht, einen beherrschten Ausdruck auf ihr Gesicht zu zwingen, aber ihr ist klar, dass sie kläglich versagt dabei. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, will der Ältere der beiden wissen. Seine Stimme ist tief und höflich. Er hat graue Augen und das braune Haar wird an den Schläfen grau. Sympathisch, aber Eindruck machend. Über 1.80 gross und mit breiten Schultern. Er stellt etwas dar, würde ihre Mutter sagen. Sie nickt jetzt. „Ja“, bringt sie hervor.
„Sie sehen sehr aufgelöst auf. Können wir Ihnen irgendwie helfen? Fühlen Sie sich krank?“, fragt der Jüngere und betrachtet sie aufmerksam. Alys fragt sich, ob er auf Zeichen von Drogenmissbrauch achtet. Geweitete Pupillen oder so etwas. Ich habe keine Drogen genommen. Ausser man könnte ihn auch als Droge bezeichnen und ich habe einer verbotenen Sucht nachgegeben ... Schmerz erfasst sie beim Gedanken daran, was sie getan hat und sie sieht, dass sie es auf ihrem Gesicht sehen können. „Es ist alles in Ordnung“, versucht sie zu versichern. Immerhin merken sie so, dass sie in der Lage ist, komplette Sätze von sich zu geben. Dass sie nicht nach Alkohol oder Gras riecht. „Können wir Sie irgendwo hinbringen?“, will der Ältere wissen. Im gleichen Moment kommt von irgendwo eine Melodie, ein Gitarrenriff; es wird lauter und lauter, dann kommt Eliots Stimme dazu, sie singt von ängstlichen Augen ... Ihn zu hören lockt schon wieder Tränen in Alys’ Augen. Sie sucht mit der rechten Hand in der Handtasche nach dem Handy. Die beiden Polizisten stehen immer noch am gleichen Ort und beobachten sie dabei. Eliot Wagner, sagt das Display. Sie wiegt das Handy
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