Sehnsüchtig (German Edition)
Autofähre nach England und muss sich erst einmal an den Linksverkehr gewöhnen, vor allem mit dem Auto, das fürs Festland konzipiert wurde. Als besonders tückisch stellen sich Parkhäuser heraus, wenn sich der Knopf fürs Ticket plötzlich auf der falschen Seite befindet. Sie übernachtet bei netten älteren englischen Ehepaaren – Jody und John, Alistair und Rosamund, Hugh und Margaret – in Zimmern, wo Blumentapeten miteinander wetteifern, welche am kitschigsten ist. Sie isst in Pubs zu Abend und nimmt wieder zu, kein Wunder, bei all den Fish and Chips, den gehaltvollen Eintöpfen und dem schweren Bier. Sie verliebt sich in Schottland in den dunklen Dialekt der Männer, aber nur in den Dialekt. Sie besichtigt unzählige Schlösser, lauscht auf Geschichten von Schlossgespenstern und Moorgeistern, sie fährt am Loch Ness entlang, Nessie aber will den Kopf nicht aus dem Wasser strecken.
Ihren inneren Frieden findet sie nach langem Suchen auf der schottischen Isle of Skye wieder, wo es nur Schafe und karge Hügel gibt und kein Dorf aus mehr als zehn weiss gestrichenen Häusern zu bestehen scheint. Es gefällt ihr so gut bei der herzensguten alten Frau – Estelle – die sie nach wenigen Tagen als Tochter- oder Enkelinnen-Ersatz ansieht, dass sie fast drei Wochen in dem winzigen altrosa gestrichenen Dachzimmer bleibt. Estelle ist personifizierte Warmherzigkeit, eine Brille mit Goldrahmen auf der Nase und sorgfältig gelegte Dauerwelle. Sie nennt Alys ‚Honey’ und ‚Darling’ und ‚Sugar’ und drängt ihr jeden Tag mehrere Tassen Tee mit Milch auf. Estelles Tee ist süss und riecht nach Trost. Nach dem ersten Abend kennt sie Estelles komplette Lebensgeschichte. Nach zwei Wochen erzählt Alys ihr sogar ein bisschen von Eliot und Ella erzählt ihr von William, ihrer grossen Liebe, der nach einem verzauberten Sommer, jenem von 1950, dann doch eine andere geheiratet hatte. „Der Mann mit den blausten Augen, die ich je gesehen habe“, sagt sie.
Jeden Abend, wenn Estelle um 20 Uhr ins Bett gegangen ist, fährt Alys an die gleiche Stelle an die Küste, wo die Klippen steil abfallen und fast wie die Cliffs of Moher in Irland aussehen. Der Wind zerrt an ihrem Haar, die Sonne wirft sich zufrieden ins Meer und webt einen Goldteppich daraus. Das Wetter in Schottland will sich wohl gegen seinen Ruf wehren. Für Alys scheint immer die Sonne. Und an einem dieser Abende, eine Büchse schottischen Cidre in der Hand, den Blick fest auf den Horizont geheftet, findet das Glück sie wieder. Irgendwie.
FLASCHENGEIST
November 2012
Sie lässt ihre Finger über einen Bucheinband gleiten, fährt die Linien der Illustration entlang. Das ist ein tolles Cover . Wer immer es gemacht hat, ist wahnsinnig talentiert. Ich muss herausfinden, wie diese Schrift heisst. Ich will sie haben! Ein bisschen sieht sie aus wie Glypha. Aber es ist nicht Glypha . Alys dreht das Buch um und liest die Inhaltsangabe. Sie muss endlich damit aufhören, Bücher zu kaufen, nur weil ihr der Einband gefällt. Das ist wie Schuhe in der falschen Grösse kaufen. Es geht um Liebe, natürlich, um eine schwierige Liebe, die irgendwie nicht sein darf, aber bestimmt werden sie sich trotzdem nicht widerstehen können. Sie legt den Roman hastig wieder zurück. Sie liest keine Liebesromane mehr. Seit vielen Monaten nicht. Liebe ist kein Thema mehr für sie. Oder noch nicht wieder. Was Männer anbelangt, kommt sie sich zurzeit vor wie ein Flaschengeist. Gefangen in einer Flasche, durch grünes Glas getrennt von der Aussenwelt, darauf wartend, erlöst zu werden. Erlöst vom Fluch eines Zauberers mit braunen Augen und dunklem Haar. Er fehlt ihr immer noch. Nicht mehr so sehr wie auch schon. Aber er ist irgendwie immer da, geistert durch ihre Träume und viel zu oft taucht er in ihrem Kopf auf, geht da im Kreis. Nächste Woche ist es ein Jahr her, dass sie sich kennen gelernt haben. Damals im ‚Mon Amour’ an diesem Konzert. Sie kann sich an jeden Moment dieses Abends erinnern und sie hört noch jedes Wort, das er am Telefon gesagt hatte als er ein paar Tage später angerufen hatte. „Guten Tag, da ist Wagner ...“ Sieben Monate ist es her seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Es tut immer noch weh, daran zu denken. Überhaupt an ihn zu denken. Hör auf damit. Alys beschliesst, in die Abteilung mit den Sachbüchern zu wechseln und nachzuschauen, ob sie dieses neue Buch über Bansky schon haben.
Alys liebt Bücherläden, vor allem diesen riesigen
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