Sehnsüchtig (German Edition)
beim Bahnhof, in dem man sich glatt verlaufen könnte. In Bücherläden könnte sie ganze Tage verbringen. Früher war sie oft in der Bibliothek unten in der Altstadt gewesen, aber sie erträgt keine Bibliotheken mehr. Vor allem genau diese in der Altstadt nicht, weil sie weiss, dass die Legere-Format-Bibliothek diejenige ist, in der er jahrelang gearbeitet hat. Wer weiss, vielleicht sitzt er dort jetzt wieder hinter dem Tresen, weil er seine Musikkarriere auf Eis gelegt hat. Falls er schon wieder gesund genug ist. Es ist still geworden um Eliot Wagner in den letzten Monaten. Aber sie hat ihn auch nicht gegoogelt, nachdem sie von ihrer Reise zurückgekommen war. Sie hatte alle Internetseiten gemieden, die ihr etwas über ihn verraten könnten.
„Sorry“, sagt da eine Stimme. „Darf ich dich etwas fragen?“ Die Stimme klingt nach gutem Whiskey und Zigarren, spricht ein etwas kehliges Englisch, der Akzent kommt ihr vertraut vor. Sie hat ihn auf ihren Reisen gehört, ihr fallen Schafe ein und Pubs und unendliche grüne Wiesen, nur gelegentlich unterbrochen von Hecken. „Ja?“, macht sie und blickt auf. Ein Mann lächelt sie an, er will nicht recht zu der Stimme passen. Die Stimme hatte nach einem älteren Mann in Tweed mit distinguierter Miene geklungen, aber er ist höchstens 30. Und er kann nicht auf sie herabsehen wie viele andere Männer, er ist nicht besonders gross, vielleicht 1.75.
Alys wartet ab was er zu sagen hat. Er hat sie überrumpelt, sie wird eigentlich nie von Männern in ihrem Alter angesprochen, immer nur von älteren Frauen, die wissen wollen, wo der Bahnhof ist oder die nächste Apotheke, diese und jene Strasse.
„Weisst du ob sie hier auch englische Bücher haben?“ Sie wirft einen Blick über seine Schulter auf das Schild mit dem Pfeil, der ins Obergeschoss weist, „English Books“ steht darauf, nicht zu übersehen. Einen Augenblick liegt ihr eine spöttisch-kühle Bemerkung auf der Zunge, schau mal auf das Schild gleich da hinten. Sie will eigentlich weiter in den Büchern stöbern und nicht mit jemandem reden, den sie nicht kennt. Aber er lächelt immer noch und studiert ihr Gesicht auf eine Art, wie es lange niemand mehr gemacht hat.
Er ist blond und sein Gesicht ist freundlich, die Wangenknochen etwas breit. Sie steht nicht auf blonde Männer. Aber dieses Lächeln könnte Blumen zum Blühen bringen. Dabei ist draussen Spätherbst und vorgestern hat es zum ersten Mal geschneit. Dann fällt ihr ein, dass er immer noch auf eine Antwort wartet. „Ja, sie haben englische Bücher hier“, sagt sie auf Englisch. Er scheint kein Deutsch zu sprechen. Ihre Stimme klingt kühler als sie vorhatte, weil er sie überrumpelt hat und weil seine Art, sie anzusehen, sie unsicher macht ...
„Zeigst du mir, wo?“ Er guckt jetzt hilfesuchend und das auf irgendwie entzückende Art. Er ist sympathisch und eigentlich nicht ihr Typ, aber sein Lächeln hat etwas und dieses Englisch sowieso. „Sicher.“ Jetzt strahlt er. „Danke“, sagt er. „Ich bin übrigens Alan.“
„Alys.“
„Alice?“
Sie schüttelt den Kopf. „Fast. Mit Y und S am Schluss.“
„Noch nie gehört. Aber schön.“ Er lächelt wieder und sie fühlt ihre Wangen warm werden. „Das war eine Mittelalterprinzessin. Alys Capet. Meine Mutter steht auf Adel und historische Romane.“
Er grinst. „I see.“
„Du bist aus Irland?“
„Ja, aus Adare.“
„Da war ich letzten Sommer .“ Eine postkartenhübsche Stadt steht vor ihrem inneren Auge, mit strohbedeckten Häusern und einem Schloss, Adare Manor, an dem sich rote Weinreben empor ranken.
„Echt?“
„Ja, mein Reiseführer hat es mir empfohlen.“ Alan grinst wieder. Er hat die blausten Augen, die sie je an einem Mann gesehen hat. Auf der Nase tummeln sich ein paar Sommersprossen. „Ja, es ist eine Touristenfalle.“
„Aber sehr schön.“
„Wenn auch sehr provinziell ... ein Kaff halt.“
„Und was machst du hier?“
„Arbeiten. Ich bin eben hergezogen – die Wirtschaftskrise zuhause.“ Sein Gesicht verdüstert sich. Sie nickt langsam. Eines der älteren Ehepaare, in deren Bed and Breakfast sie übernachtete, hatte ihr einen Abend lang aus erster Hand von der Situation in Irland erzählt. Von deren vier erwachsenen Kindern, alle mit Universitätsabschluss notabene, waren drei arbeitslos.
„Und was arbeitest du?“, will sie wissen. Es scheint ihn nicht zu stören, dass sie so viele Fragen steht. „Ich arbeite bei Google im Controlling.“ Der
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