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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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ich an dem Tag 1969 , als deine Mutter zur Stasi musste. Ein Freund von ihr war auf dem Motorrad erwischt worden, er trug das Manifest der 2000 Worte 67 unterm Arm und sagte, Annette habe es aus Prag mitgebracht. Annette war 17 , wurde von der Stasi zum Verhör abgeholt, und wir durften nicht mit. Gerd fuhr aber mit dem Auto hinterher. Ich saß oben auf der Terrasse bei uns und las von Solschenizyn Krebsstation , über eine Krebsstation in der Sowjetunion 1955 , die wie eine Metapher für das kranke System wirkt.
    GW     Vorher passierte noch die Sache mit der Wandzeitung. Annette hatte 1968 an ihrer Schule zusammen mit anderen eine Wandzeitung zur Abstimmung über die neue Verfassung der DDR gestaltet, bei der sie sich mit dem fehlenden Artikel über Meinungsfreiheit aus der alten Verfassung auseinandersetzten. Es gab furchtbaren Ärger in der Schule. Seitdem war deine Mutter bei der Stasi registriert, immer wenn irgendwas vorfiel, wurde sie verhört. Annette selbst war nicht so stark gefährdet, sie bekam einen Verweis vor dem Fahnenappell. Gefährdeter waren die, die gerade Abitur machten. Sie konnten die Schule zwar beenden, mussten danach aber gleich zur Armee. Immerhin konnten wir Annettes Schulleiter stürzen. Einmal provozierte ich ihn so, dass er einen Wutanfall bekam. Da konnte ich sagen: »So tritt er vor seinen Schülern auf!« Später wurde er abgesetzt. Wir hatten dann auch Angst vor Hausdurchsuchungen und davor, dass die Stasi herausfindet, dass wir mit Franzi 68 , die damals in der tschechischen Opposition war, und Literárni Noviny in Kontakt standen. Das hat die Stasi aber komischerweise nicht gewusst. Deshalb lagerten wir zum ersten Mal Christas Tagebücher aus.
    JS     Eigentlich war also eher meine Mutter eine 68 erin?
    GW     Ja, sie hat sich sehr damit identifiziert. Mit Prag. Wir auch. Wir dachten, da geht es noch einmal richtig los, dort könnte sich ein anderer Sozialismus entwickeln.
    CW     Wir hatten viel mit Franzi zu tun. Sie und ihr Freund Jarda besuchten uns in dem Jahr in Prieros in unserem Bungalow, und wir verbrachten gemeinsam unseren Urlaub. Wir sprachen damals nur über Prag, Prag, Prag und die dortigen Ereignisse. Das Manifest der 2000 Worte war erschienen. Alles stand schon sehr auf der Kippe. Wir gingen gemeinsam im Wald spazieren und sagten: »Mensch Franzi, passt bloß auf, seid vorsichtig! Wagt euch nicht zu weit vor!« Franzi meinte: »Was soll passieren? Werden die etwa einmarschieren?« Ich sagte: »Ja, die werden einmarschieren!« Da hat sie nur gelacht.
    JS     Wie habt ihr vom Einmarsch erfahren?
    CW     Der Tag des Einmarsches war schrecklich.
    GW     Christa war in Prieros und ich in Berlin.
    CW     Gerd rief ganz früh am Morgen an und sagte: »Hör mal Nachrichten. Die Russen sind in Prag!« Und ich habe geheult und geheult. Danach empfanden wir nur noch Desillusionierung.
    GW     Später am Tag holte ich Christa und Tinka mit dem Auto ab, überall standen Posten auf den Landstraßen. Zum Teil kontrollierte auch die Armee.
    CW     Es war wie in einem besetzten Land.
    JS     Wie habt ihr in der Zeit Kontakt zu Franzi gehalten?
    CW     Wir sprachen über die Ereignisse nicht am Telefon. Als sie und ihr Freund Jarda später meine Bücher übersetzten, redeten wir auch darüber nie am Telefon. Es durfte keiner wissen, dass sie die Übersetzer waren. Sie hatten Berufsverbot. Deshalb konnte man nicht einfach anrufen und darüber sprechen. Nur wenn sie in die DDR kamen, konnten wir reden. Einmal fuhren wir zur Kur nach Ungarn, da kam Franzi in Prag zum Bahnhof, und wir fielen uns weinend in die Arme. Leider habe ich einige Briefe von Franzi damals vernichtet, weil ich Angst hatte, dass die Stasi sie bei uns findet.
    JS      1968 bedeutete für euch – anders als im Westen – die Hoffnung auf einen anderen Sozialismus.
    CW     Ja, sozusagen die letzte Hoffnung.
    GW     Von da an wurden wir von der Stasi beobachtet, die Abhöraktionen gingen los, und es wurden genaue Planzeichnungen unserer Wohnung angefertigt.
    CW     Eigentlich begann da die Hoffnungslosigkeit!
    JS     Das ist doch alles sehr früh – 1965 und 1968 – gewesen. Da wart ihr schon ziemlich »konterrevolutionär«, hattet euch schon ziemlich vom DDR -System verabschiedet.
    CW     Das denke ich jetzt auch manchmal. Das waren merkwürdige Jahre, und es ging nur, weil unsere Freunde sich genauso verhielten. Eigentlich haben wir damals

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