Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
schon völlig klar gesehen.
JS Eben. Wie habt ihr dann den Rest ausgehalten?
CW Du hast völlig recht, da gab es verschiedene Stadien. Es ging um die Frage, gehen wir weg oder nicht. Aber wir hatten keine Alternative, in Westdeutschland wollten wir nicht leben.
GW Wir sprachen einmal mit Günter Gaus 69 , dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, über eine mögliche Ausreise, der sagte nur: »Oh, die ganze Familie!« Allein wären wir sowieso nicht fortgegangen, Christas Vater lebte ja auch noch.
CW Einmal waren wir in der Ständigen Vertretung, wir waren oft dort eingeladen, und Gaus sagte, er möchte mich mit jemandem bekannt machen. Aus einer Nebentür kam Egon Bahr auf mich zu und sagte: »Ich hoffe, Sie halten durch und bleiben hier!«
GW Wir haben oft überlegt wegzugehen, konnten dann aber auch in den Westen reisen.
JS Ab wann durftet ihr in den Westen?
CW Ab 1964 immer mal, dann wieder nicht. Nach dem 11 . Plenum durften wir erst mal nicht rüber.
JS Ihr durftet reisen. Das war ein DDR -Leben, das nur wenige führen konnten.
GW Viele Rentner fuhren in den Westen. Autoren, Theaterleute und Wirtschaftsfachleute auch.
JS Ich durfte auch zweimal in den Westen fahren, weil mein Vater mich in seinen Filmen 70 besetzte. Deshalb war ich 1982 in Spanien und dann noch einmal 1987 in Paris. Vor meinen Mitschülern und Freunden waren mir diese Reisen eher unangenehm. Ich konnte meine Freude nicht teilen, es niemandem richtig erzählen, weil ich merkte, wie außergewöhnlich das war, wie viel Neid es erzeugte. Es sprach sich natürlich trotzdem herum, so dass mich Leute, die ich gar nicht kannte, fragten: »Bist du nicht die, die in Spanien war?«
Warum durftet ihr reisen, was denkt ihr, wollte die DDR -Führung euch loswerden oder euch halten?
CW Uns wollten sie halten. Einmal bestellte mich Erich Honecker zu sich. Das war 1976 nach der Biermann-Sache, danach verließen viele die DDR , unter anderem Sarah Kirsch, mit der wir befreundet waren. Wir waren in Neu-Meteln, es regnete stark. Da fuhr ein Auto vor, eine tolle Kutsche, ein Mann überbrachte mir die Nachricht, ich möchte bitte zu Genosse Honecker kommen. Ich bin dann in den Staatsrat. Mir wurde gesagt, Honecker empfange gerade noch den neuen US -Botschafter. Alle waren ungeheuer höflich. Dann kam Honecker, da war so eine Sitzecke, er setzte sich zu mir und sagte: »Wir können hier ganz offen sprechen, hier wird nicht abgehört.« Ich sprach offen. Unter anderem ging es darum, dass wir drei Leute aus dem Gefängnis holen wollten. Das klappte auch. Ich sagte ihm, wie schlimm ich es fände, dass Sarah Kirsch nicht mehr in der DDR bleiben wolle. Honecker: »Sollte ich sie vielleicht halten?« Ich: »Nein, jeder, der ausreisen will, soll ausreisen. Man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie es nicht müssen.«
JS Aber warum hatte er dich zu sich bestellt?
CW Er wollte wissen, ob wir auch vorhatten wegzugehen. Wir sollten bleiben. »Christa«, sagte er, »ihr müsst bleiben, wir brauchen euch.« Es werden Bedingungen in der DDR geschaffen, dass wir schreiben könnten. Ich sagte, nach dem, was mit Biermann geschehen sei, hätte ich Schwierigkeiten. Honecker meinte, man habe nicht gestatten können, dass Biermann gegen die DDR auftrete. Ich habe diesen ganzen Tag protokolliert, habe das Protokoll bloß noch nicht wiedergefunden. Das war ein ganz absurder Tag. Danach besuchte ich Anna Seghers, die im Krankenhaus lag. Sie war nicht richtig bei sich, sie sagte: »Hier kommen immer so komische Leute herein. Sie sind so weiß gekleidet, denkst du, das sind Franzosen?« Ich: »Du, Anna, das sind Ärzte.« Sie: »Ja, meinst du?« Die Krankenschwestern gingen mit ihr um wie mit einem ungezogenen kleinen Mädchen. Es war deprimierend.
JS Im Prinzip habt ihr wirklich lange in der DDR ausgeharrt, obwohl ihr euch innerlich schon von ihr distanziert hattet.
CW Ich habe dann Kassandra geschrieben, da war ich einigermaßen zufrieden.
GW Nein, vorher kam noch Kein Ort. Nirgends .
CW Ja, da mussten wir lernen, ohne Alternative zu leben. Dass es weder hier noch dort gut ist. Deshalb Kein Ort. Nirgends – das traf genau meine Befindlichkeit, genauso habe ich empfunden. Denn was sollte ich drüben schreiben? Sollte ich vom Westen aus die Konflikte der DDR behandeln? Nein!
JS Ihr hattet
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