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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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letzten Satz weiß ich meist genau.
    CW     Ich nicht immer. Oft entsteht er im Laufe der Arbeit, ich erahne ihn schon. Bei meinem jetzigen Manuskript Stadt der Engel kam der letzte Satz überraschend. Ich weiß noch nicht, ob er bleiben wird. Bei mir ging es auch oft um die Frage, ob ich in der dritten oder ersten Person schreiben sollte. Meistens beginne ich erst mal in der dritten Person, bei Kassandra zum Beispiel habe ich die ersten sechzig Seiten in der dritten Person geschrieben und bin dann auf die erste Person zurückgekommen.
    JS     Im Journalismus benutzt man die erste Person Singular nicht oft.
    CW     Das verstehe ich nicht und finde es auch nicht richtig.
    JS     Es ist auch nicht immer gut. Im angelsächsischen Journalismus ist es üblich, dass der Reporter sich einbringt, da wird es manchmal ein bisschen zu viel. Das »Ich« wirkt so stark, dass der Journalist die eigentliche Hauptfigur des Textes wird. Aber wenn man als Reporter tatsächlich einzigartige Dinge erlebt, finde ich es richtig, dass man sich auch zu erkennen gibt. Bist du denn sehr diszipliniert beim Schreiben?
    CW     Sehr diszipliniert würde ich nicht sagen. Früher, als die Kinder zur Schule gingen, sah ich zu, dass ich die Zeit nutzte, wenn die Kinder aus dem Haus waren – ich arbeitete so ab neun, bis sie wiederkamen. Es ist bis heute so, dass ein Tag, an dem ich gar nicht am Manuskript arbeite, mir ziemlich verloren vorkommt. Anna Seghers sagte mal zu mir: »Wenn man jeden Tag ein bisschen schreibt, ist am Ende komischerweise ein Buch fertig.« Nicht wie Thomas Mann, der jeden Tag eine Seite schrieb, aber ich versuche, wenigstens ein paar Zeilen täglich zu Papier zu bringen. Es ist wichtig, zwischendrin nicht zu große Pausen zu machen.
    JS     Sonst kommt man wieder raus.
    CW     Ich vergesse sonst, was ich schon habe.
    JS     Gerade an Stadt der Engel sitzt du schon einige Jahre. Bevor ich anfange zu schreiben, telefoniere ich erst einmal, räume das Zimmer auf oder den Schreibtisch. Kennst du diese Schreibvermeidungstaktiken?
    CW     Leider ja. Zum Beispiel lese ich früh viel zu lange Zeitung, krame so herum. Da ist plötzlich dies oder jenes fortzuräumen, und dann finde ich, dass der Schreibtisch diesen oder jenen Reinheitsgrad haben müsste, ehe ich weitermachen kann. Dann sehe ich auf die Uhr, und es ist schon zwölf. Eigentlich wollte ich um zehn anfangen. Das gelingt mir fast nie. Dann bin ich so blöd und nehme Telefongespräche an, auch vormittags. Kurzum, ich lasse mich ablenken. Und ich habe einen Haufen Post da liegen, die ich beantworten muss.
    JS     Bist du beim Schreiben über die Jahre gelassener geworden?
    CW     Weiß ich gar nicht. Ich will es einmal so sagen: Wenn dieses Manuskript nichts wird, hängen nicht Leben und Tod davon ab.
    JS     War das früher anders?
    CW     Ja. Ein Text sollte vollkommen sein. Er sollte genau das sagen, was ich in dem Moment sagen wollte. Das ist auch eine Frage des Alters und sicher eine der Veränderung der Gesellschaftsordnung. Unbewusst.
    JS     Hat das etwas damit zu tun, was du vorhin sagtest, dass du dich ausrangiert fühlst?
    CW     Ich habe das Gefühl, ich werde nicht mehr so gebraucht, wie ich damals gebraucht wurde. Mich sprechen immer noch viele Menschen an, die mir sagen, wie wichtig ich für sie war, und die mich bitten weiterzumachen. Ich habe aber das Gefühl, das muss nicht sein. Was ich sage, wissen die Leute eigentlich.
    JS     Ist das ein gutes oder ein schlechtes Gefühl?
    CW     Beides. Ich lebe jetzt nicht mehr so lang. Wenn ich mir nichts Großes oder Gewaltiges mehr vornehme, was ich schreiben will, sondern einfach viel Zeit habe, um zu lesen, würde mich das nicht stören.
    JS     In der DDR hatten gerade die Schriftsteller eine Überbedeutung als moralische Instanzen. Ihr musstet für alle sprechen, das sagen, was andere nicht sagen konnten oder wollten. Das war auch eine Überforderung.
    CW     Absolut. Das habe ich erst nach und nach gemerkt. Ich hatte die ganze Zeit dieses Gefühl im Nacken, etwas Bestimmtes machen zu müssen. Verantwortlich zu sein dafür, dass dies und jenes gesagt oder geschrieben wird. Es war ein sehr, sehr intensives Gefühl. Mein Bluthochdruck ist nicht umsonst entstanden.
    JS     Hattest du auch Erfolgsdruck?
    CW     Das war nicht so sehr Erfolgsdruck. Natürlich wollte ich, dass das, was ich schreibe, akzeptiert wird. Aber ganz bestimmte

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