Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
diese ganz schnell. Daraufhin rief mich Joachim Gauck in Santa Monica an, wo ich Scholar am Getty Center 75 war. Er fürchtete, dass in meinem Fall etwas schieflief, und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, er werde mich immer verteidigen. Es gäbe 42 Bände Opferakten, und dagegen stünde diese kleine andere Akte.
JS Wärst du freiwillig an die Öffentlichkeit gegangen?
CW Bin ich ja. Ein Auslöser war, als herauskam, dass Heiner Müller Kontakt zur Staatssicherheit hatte. Ihn wollte ich nicht im Regen stehen lassen. Seine Geschichte kannte ich schon vorher. Vorübergehend war er Präsident der Akademie der Künste (Ost) gewesen, und da gab es ein Gremium, das über die Zukunft der Akademie mitverhandelte. Darin war ich Mitglied. Zu Beginn einer der Sitzungen berichtete einer der Anwesenden über den Artikel von Wolf Biermann im Spiegel , in dem Biermann den Schriftsteller Sascha Anderson als »Sascha Arschloch« bezeichnete und als IM enttarnte 76 . Am Ende der Sitzung fragte mich Heiner, ob ich noch einen Moment Zeit hätte. Wir gingen gemeinsam in sein Präsidentenzimmer, dort saß er mit einem Glas Whisky. Heiner erzählte mir, er habe direkte Verbindung zu einem Stasimitarbeiter gesucht, um jemanden zu retten. Dieser Mitarbeiter sei ein vernünftiger Mann gewesen, mit dem man habe reden können. Heiner war so ein Typ, er dachte, er schaffe das schon, er sei in dem Kräftespiel der Überlegene. Er dachte, diese Begebenheit stünde natürlich in den Akten. Später stellte sich heraus, bei ihm gab es nur eine Karteikarte. Was sollte ich nun machen? Ich riet ihm erst mal dazu, nichts zu sagen in seiner Funktion und zu diesem Zeitpunkt. Ich wusste, ich musste nun auch den Mund halten, was ich auch tat. Aber als es dann im Januar 1993 herauskam, dachte ich, jetzt musst auch du reden. Ein paar Tage später schrieb ich eine Erklärung und faxte sie an die Berliner Zeitung 77 .
JS Ich erinnere mich, ich hörte damals im Radio: Christa Wolf war bei der Stasi. Ich bin fast vom Stuhl gefallen. Ich war überzeugt, das kann nur ein Irrtum sein.
CW Das kann ich mir vorstellen. Ist doch klar, dass ihr und vor allem Tinka und Annette fragten: Warum hast du uns das nicht gesagt? Ich konnte es nicht. Ich konnte darüber nicht sprechen, auch nicht mit meinen Töchtern. Vielleicht gerade nicht mit meinen Töchtern. Ich musste erst selbst damit umgehen lernen. Die Auseinandersetzung damit ist Teil des neuen Manuskripts Stadt der Engel . Darum ist es auch so schwierig. Von Santa Monica rief ich den Psychoanalytiker Paul Parin 78 in Zürich an und erzählte ihm die ganze Geschichte. Ich sagte zu ihm: »Das glaubt mir doch kein Mensch, dass ich das vergessen habe!« Anscheinend fand ich das so schlimm, dass ich alles verdrängt hatte. Worauf Parin erwiderte: »Das kann genau umgekehrt sein, dass es für Sie so unwesentlich war, dass Sie es nicht behalten haben.« Mag sein. Auf alle Fälle redete ich dann mit anderen darüber, weil ich es mir selbst nicht erklären konnte.
JS Kannst du dich heute daran erinnern oder noch immer nicht?
CW Außer an diese beiden Fälle entsinne ich mich an nichts. Dann fiel mir ein, ach ja, Mensch, einmal haben wir uns am Thälmannpark in Berlin an der S-Bahn-Station getroffen. Was wir da besprochen hatten, wusste ich aber nicht mehr. Zweimal gab es Treffpunkte, daran kann ich mich aber nur ganz verschwommen erinnern. Dann kam mir wieder in den Sinn, und das geht auch aus den Akten 79 hervor, dass ich diese Treffen möglichst versäumte, krank wurde oder abgesagt habe. Das alles war Ende der fünfziger Jahre, aber das zählte plötzlich nicht mehr. Am meisten hat mich getroffen, dass alles, was man danach gemacht hat, überhaupt keine Rolle mehr spielte. Weil es darum gar nicht ging. Michel Gaißmayer hatte im Cecilienhof zu mir gesagt: »Frau Wolf, Sie kriegen in diesem Staat kein Bein mehr auf die Erde!«
JS Womit er ja unrecht hatte!
CW Ja. Er meinte, politisch bekäme ich kein Bein mehr auf die Erde, aber ich hätte Fans, ich solle schreiben.
JS Wolltest du dich denn politisch weiter einmischen?
CW Am Anfang dachten wir, es könnte einen langsamen Prozess der Annäherung der beiden deutschen Staaten geben. Und dann war ich Mitglied der Untersuchungskommission zu den Ereignissen am 7 . und 8 . Oktober 1989 in Ostberlin. 80 Das war die Nacht, in der auch deine Mutter Annette und Honza vor der Gethsemanekirche
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