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Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)

Titel: Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Simon
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in Prenzlauer Berg verhaftet wurden. Die meisten in der Kommission kannte ich nicht. Da mussten sich zwanzig bis dreißig Menschen zu einer wirklichen Arbeitskommission zusammenfinden. Wir alle wollten herausfinden, wer Schuld an den Ereignissen und an den Übergriffen auf die Demonstranten hatte.
    JS     Ich muss zugeben, dass ich in jener Nacht mit einem Freund tanzen war. Ich war also nicht revolutionär demonstrieren. Auf dem Weg nach Hause merkte ich, dass eine seltsam angespannte Stimmung auf der Straße herrschte, überall war Polizei. Der Alexanderplatz war zum Teil abgesperrt. Mitten in der Nacht kam ich nach Hause und ging ins Bett. Am nächsten Morgen weckte mich Honzas Mutter, Franzi, die gerade aus Prag zu Besuch bei uns war, und sagte, dass Annette und Honza nicht da seien. Sie erzählte, dass sie am Vorabend noch zur Gethsemanekirche aufgebrochen seien. Dann kam unser Nachbar Lothar Trolle 81 vorbei und berichtete, dass die beiden verhaftet worden seien 82 . Er war gemeinsam mit ihnen dort gewesen und hatte entkommen können. Franzi versuchte, Trolle aus der Wohnung zu drängen. Sie dachte, er sei ein Spitzel. Ich stand mit meinem kleinen Bruder Benni im Flur, und wir riefen: »Aber Omi, das ist doch kein Spitzel, das ist der Trolle!« Das war eine surreale Situation. Richtig begriffen, dass meine Eltern verhaftet worden waren, hatte ich nicht. Ich glaube, Franzi rief dann bei euch an …
    CW     … und wir fuhren gleich los, um die beiden zu suchen. Zuerst waren wir im Polizeipräsidium in der Keibelstraße, dort war auch eine Untersuchungshaftanstalt. Dann fuhren wir weiter zum Generalstaatsanwalt. Niemand sagte oder wusste etwas. Also telefonierten wir mit dem Anwalt Gregor Gysi, der damals auch Oppositionelle verteidigte. Er sagte uns, er werde sehen, was er tun könne. Zum Glück kam Annette am 8 . Oktober abends wieder frei. Sie war richtig schockiert, hatte die ganze Nacht stehen müssen. Die Polizisten hatten die Inhaftierten mit Hunden geängstigt und einige geschlagen. Beim Verhör hatte Annette erzählt, dass sie unsere Tochter ist. Da sagte der Beamte nur: »Ach du Scheiße!« Honza war, weil er Ausländer ist, schon früher entlassen worden. Er hatte die Nacht gemeinsam mit dem Sohn des Philosophen Herbert Marcuse in einer Zelle in Rummelsburg verbracht.
    Wir sitzen noch immer am Tisch, in uns zusammengesunken, frösteln ein wenig. Der Kaffee ist schon lange ausgetrunken. Mein Großvater ist inzwischen schlafen gegangen.
    JS     Es ist ganz schön kalt hier, soll ich dir mal eine Decke holen?
    CW     … diese Untersuchungskommission, wir haben uns Jahre später noch getroffen.
    JS     Das war die Nachwendezeit, in der alle mit sich und ihrem neuen Leben beschäftigt waren und dem, was man nun machen kann und will in diesem neuen Land. Ich habe den Eindruck, dass ich damals nicht viel oder nur oberflächlich mitbekommen habe, was bei euch los war!
    CW     Du musstest dich auch auf völlig andere Dinge konzentrieren.
    JS     Ich bin jetzt 35 . Ich führe ein völlig anderes Leben, als du es mit 35 geführt hast. Erscheint es dir vollkommen fremd oder siehst du auch Parallelen?
    CW      1964 war ich 35 . Da war ich gerade Kandidatin des ZK geworden, fing an, in die ganzen Sachen verwickelt zu werden. Was hatte ich geschrieben? Eigentlich erst den Geteilten Himmel und Moskauer Novelle . Wahrscheinlich war ich viel naiver, als du es heute bist.
    JS     Du warst vor allem politisch viel involvierter!
    CW     Das auf alle Fälle. In diesem Politischen war ich verhältnismäßig naiv und voller Hoffnung. Vieles wusste man damals auch noch nicht. Alles, was nach 1956 , nach dem XX . Parteitag der KP d SU, kam, das war der arge Weg der Erkenntnis. Stück für Stück. Trotzdem blieben Gerd und ich politisch involviert. Man konnte gar nicht anders in dieser Generation nach diesem Krieg, nach diesem Nationalsozialismus. Wir fanden, es ging gar nicht anders, als politisch aktiv zu sein.
    JS     Findet ihr meine Generation unpolitisch?
    CW     Von dir habe ich es eine Zeitlang gedacht. Das denke ich jetzt nicht mehr. Du bist vielleicht nicht im engeren Sinne politisch aktiv, aber gesellschaftlich engagiert und interessiert schon. Bei Frank weiß ich es nicht.
    JS     Es ist sicher nicht mit euch vergleichbar, vor allem sind wir nicht parteipolitisch gebunden. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, mich mit einer Partei zu identifizieren. Das kann

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