Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
wieder abgeholt?
GW Zuerst hatten wir sie zu unserer Freundin, der Fotografin Helga Paris 87 , geschafft. In jener Zeit folgte uns immer ein Auto. Also kaufte ich Gemüse ein, damit die Stasi sah, dass aus der Tasche Gemüse herausschaute. Die Tagebücher vergrub ich darunter. Später holten wir sie wieder bei ihr ab und fuhren sie zu Christas Bruder Horst. Dort fotografierten wir die Tagebücher, dann brachten wir die Filme nach Westberlin, kauften eine Stahlkassette, legten sie dort hinein und gaben sie unserer Freundin Marianne Frisch 88 . Sie wusste nicht, was sie da aufbewahrte.
CW Nach dem Mauerfall gab Marianne uns die Kassetten zurück und sagte: »Mensch, jetzt könnt ihr mir doch sagen, was da drin war.« Aber die skurrilste Geschichte erlebten wir mit dem Autor Stefan Schütz 89 : Bevor er mit seiner Frau in die Bundesrepublik übersiedelte, besuchte er uns noch einmal, um sich zu verabschieden. Wir sind, blöd, wie wir waren, in die Küche gegangen, weil wir dachten, dort werden wir nicht abgehört. Schütz sagte, er traue sich nicht, sein letztes Manuskript mit in den Westen zu nehmen. Er hatte Angst, es würde ihm an der Grenze abgenommen werden, und fragte uns, ob wir es aufheben könnten. Natürlich! Ich packte es in die Ecke eines Schrankes. Schütz sagte, wenn eines Tages jemand vorbeikäme und das Codewort »Vater« sage, dann dürften wir es demjenigen geben. Ein paar Wochen später klingelte es bei uns, vor der Tür stand Günter de Bruyn und sagte: »Vater.« Wir haben so gelacht.
GW In der Wendezeit trafen wir uns einmal mit dem SPD -Politiker Hans-Jochen Vogel bei der Zeit -Journalistin Marlies Menge. Er wollte wissen, was los sei im Osten und was für Leute diese Bürgerrechtler seien, die nun die DDR - SPD gegründet hatten. Da war die Mauer gerade gefallen.
CW Die Spitzen in Ost und West hatten wenig Informationen darüber, was vor sich ging, sie hatten sich nicht mit der Bürgerbewegung befasst. Eines Tages nach dem Mauerfall kam der Gesandte der sowjetischen Botschaft in Ostberlin, Igor Maxymitschew, zu uns. Er saß in unserem Wintergarten und wollte von uns wissen, ob die Bürgerrechtler vorhätten, die russischen Kasernen zu stürmen …
JS (lacht) … und du hast gesagt, ja, gleich morgen früh!
CW Ich dachte, jetzt ist etwas schiefgelaufen. Ich antwortete: »Auf gar keinen Fall. Sie werden doch nicht etwa schießen?« Er sagte, das wollten sie nicht. Aber sie wüssten nicht, was die Bürgerbewegung plane.
GW Sie hatten heillose Angst davor, dass irgendwo ein Stein fliegt und eine Pistole losgeht.
JS Wieso kamen die zu euch?
CW Weil sie keine Ahnung hatten. Maxymitschew fragte, ob die Bürgerrechtler die Konterrevolution wollten. Wir erzählten ihm, was wir wussten, und sagten, er solle sich nicht so aufregen.
Vor dem Mauerfall waren wir jahrelang, seit der Biermann-Sache, nicht mehr in der sowjetischen Botschaft eingeladen gewesen. Wir waren Persona non grata. Eines Tages, zur Zeit der Wende, wurden wir zu Herrn Botschafter Kotschemassow eingeladen. Gerd und ich kamen dorthin, wurden durch große Säle an einen Tisch geführt, der beladen war mit allem, was das große, weite Russland zu bieten hatte. An dem Tisch saßen nur wir beide, der Botschafter, seine Frau und ein ganz junger Dolmetscher. Auch Kotschemassow wollte wissen, was diese Bürgerrechtler vorhätten. Es ging auch darum, ob die DDR nun Mitglied der NATO werde. Der Botschafter sagte, das käme nicht in Frage, die sowjetische Führung würde das niemals zulassen. Er fragte uns, wie sich die Botschaft nun verhalten solle. Wir antworteten, sie sollten Diskussionen veranstalten, Probleme und Konflikte müssten ausgetragen werden. Der Botschafter war ein Gegner Gorbatschows.
Nach zwei Stunden waren wir vollgefressen und hatten uns sehr ereifert. Dann begleitete uns der Dolmetscher hinaus. Auf dem kurzen Weg im Hof sagte er zu uns …
GW … den alten Opa da oben könnten wir vergessen!
CW Und Gorbatschow auch! Dem sollten sie ein Denkmal bauen, sagte er, der sei erledigt. Jetzt gehe es nur noch darum, ob das Ganze mit viel oder wenig Blut ablaufe. Das erzählte er alles auf dem kurzen Hofweg in abhörsicherer Distanz zum nächsten Posten. Und er sagte, so offen wie wir hätte an diesem Ort überhaupt noch niemand gesprochen. Das war ein Erlebnis der dritten Art.
GW Der Dolmetscher war ein Putin-Typ. Er sah ihm sogar
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