Sei lieb und büße - Thriller
Bruder das Herz gebrochen.
Ein Schluchzer schafft den Weg aus meiner viel zu engen Brust.
»Ach, Tabea, eines Tages kommt er darüber hinweg und dann kommt er vielleicht zurück.« Sie lächelt mich an. »Du hast doch Adrian. Er ist auch dein Bruder.«
»Stiefbruder!«, fauche ich.
»Ja, das stimmt. Und Holger ist dein Stiefvater. Aber sie haben dich beide lieb und sind jetzt Teil deiner Familie. Und es wäre schön, wenn du das eines Tages akzeptieren würdest.«
Sie streicht ein letztes Mal über meinen Kopf und sieht mit ihrem mütterlich nachgiebigen Blick auf mich herab. Dann steht sie auf und verlässt das Zimmer, während ich ihr hinterherschreien möchte: Niemals! Niemals werde ich Holger und Adrian akzeptieren! Eher werde auch ich alles hinter mir lassen und einfach abhauen.
61
Der blaue Schulranzen hüpft über den staksigen Beinen die Treppe hoch und verschwindet in der Tür. Sina rüttelt einmal an Bens Schloss, verdreht die Zahlen und geht zu ihrem Rad zurück.
Von hier bis zur Polizeistation sind es nur drei Blocks. Ihre Hand legt sich auf die Umhängetasche, die seitlich über ihrer Hüfte baumelt und bei jedem Tritt in die Pedale hin und her schlenkert. Wie Max’ ringelbesockte Zehen gestern Nacht, die stundenlang im Takt einer imaginären Musik gewackelt haben. Vor und zurück, hin und her. Orange-blau gestreifte Socken. Ihre waren orange-grün gestreift. Als hätten die Socken sich abgesprochen.
Wie schnell die Zeit letzte Nacht verflogen ist. Als Max schließlich gesagt hat, er müsse gehen, hatte sie kaum fassen können, dass es schon fünf Uhr war. Gut, dass Ben heute später Schule hat. Sonst hätte sie gar nicht mehr schlafen können. Aber trotz ihrer Müdigkeit hat die fast durchwachte Nacht ihr gutgetan. Sie abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. Sina biegt auf die Hauptstraße ab.
Wie amüsant er erzählt hat. Sie hätte ihm noch stundenlang zuhören können. Über seine Kindheit in Schottland und seinen berühmten Vater, den Startenor Gregory Kirk. Über die Zeit in New York und die in Sofia, die in Paris und die in Wien. Über sein Verständnis von Zuhause: »Zuhause ist da, wo du es dir einrichtest. Egal, ob Kranbach oder New York.« Über seine Großmutter, zu der er mit zwölf Jahren gezogen ist, als die wechselnden Engagements des Vaters sich nicht mehr mit der Schule vereinbaren ließen. »Ich hatte die Wahl zwischen Dampfnudeln mit Vanillesoße und Haggis – was hättest du genommen? Wenn das hier alles vorbei ist, nehme ich dich mit zu ihr. Sie ist die Dampfnudelkönigin von Kranbach. Wenn sie anfängt, Geschichten zu erzählen, kann Kapitän Blaubart sein Seemannsgarn schneller wegstecken, als du Vanillesoße sagen kannst.« Über sein Studium als Musiktherapeut und sein Praktikum an Bens Schule. Sechs Monate. Nach den Sommerferien muss er wieder zurück nach Hamburg an die Musikhochschule. Sina schüttelt den Kopf. Freiwillig von Hamburg zurück nach Kranbach. Wegen seiner Oma. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen und in ihrer Nähe sein. Rik hat das verstanden, er ist ja auch bei seiner Oma aufgewachsen, aber sie ist kurz nach Mia gestorben. Er hat mir gleich das freie Zimmer in seiner Wohnung angeboten.«
An der Wand des Ziegelbaus prangt in riesigen Lettern die Aufschrift »Polizei«. Sina steigt ab und sperrt ihr Fahrrad an das Parkverbotsschild vor dem Eingang. Entschlossen betritt sie den weißen Vorraum, von dem aus man durch Glasscheiben in den Amtsraum sehen kann, wo ein Polizist in eine Akte vertieft an einem Schreibtisch sitzt.
Sina klingelt. Sogleich beginnt über ihr ein Lautsprecher zu rauschen.
»Bitte?«
»Ich hätte … müsste mal jemanden sprechen.«
Ein Summen ertönt und Sina drückt die Tür auf. In dem Amtsraum trennt sie ein brusthoher Tresen von dem Polizeibeamten, der sich träge von seinem Schreibtisch erhebt und auf sie zukommt. Verdammt. Ausgerechnet der Polizist von gestern. Auch er scheint sie wiederzuerkennen, ein spöttisches Lächeln wandert über seine Lippen.
»Wenn das nicht das Fräulein Beckhaus ist. Was haben wir denn heute auf dem Herzen?«
Unwillkürlich presst Sina ihre Tasche an sich, als horte sie die Beute eines Jahrhundertraubs darin. Ihm zu erklären, worum es geht, würde nichts bringen. Er würde sie nicht ernst nehmen.
»Ich hätte gern Herrn Kurz gesprochen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Frederik Lofers Tod.« Sie versucht, ihre Stimme fest klingen zu lassen. »Herr Kurz hat mich gebeten, zu ihm zu
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