Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
nehmen sie Marios Botschaften nicht nur begeistert auf, sondern mit in ihren persönlichen Alltag. Sie leben da mit ihm wie mit einem nahen Verwandten. Insofern ist eine Veranstaltung wie die im Berliner Olympiastadion nicht nur ein Volksfest, sondern eine Familienfeier. Und wie es in anderen Familien zugeht, geht Fremde eigentlich nichts an.
Vorbilder der Güteklasse Barth allein wären also kein Grund für anschwellendes Wehgeschrei von Kulturpessimisten. Deren einstige Idole auf Zeit dürften auch nicht unbedingt zu den Geistesgrößen ihrer Zeit gezählt haben. Wer Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas und Karl Marx und Ernst Jünger und Oswald von Nell-Breuning etc. ebenso selbstverständlich zitieren kann wie die Nachgeborenen
Bohlen und Klum und Cindy aus Marzahn und Barth etc., hatte damals vielleicht heimlich Poster an der Wand von Klaus Kinski, Elvis Presley, Christine Kaufmann oder Marilyn Monroe. Ihr Einfluss auf das weitere Leben blieb begrenzt, es gab keine Massenmedien, die pubertäre Verirrungen zu einer Massenbewegung machten.
Früher war bekanntlich alles besser. Nicht nur die Stars waren echter, nicht nur die Witze besser, auch die dunkle Schwester des Fröhlichen, die Trauer, hatte noch ihre eigene Würde. Sogar die ist verramscht und vereinnahmt worden. Heute umarmen sich weinend Menschen vor einem bei RTL oder Sat.1 versendeten Tatort eines Verbrechens oder eines Unglücks in Dingsda, stellen Kerzen auf, legen Blumen hin und eilen dann sofort nach Hause, um sich bei der nächsten Übertragung von ebenjenen Sendern auf dem Bildschirm weinen zu sehen. Dann warten sie auf eine SMS auf ihrem Handy mit der erfreulichen Botschaft: »Habe dich gerade im Fernsehen weinen sehen.«
Es gibt sogar Reisende in Sachen Betroffenheit. Einer von denen, ein echter deutscher Mitbürger, sein Name ist hier unwesentlich, wird immer wieder gern, hauptsächlich von Boulevardmagazinen, genommen, weil er nach Unglücken, Morden, Brandstiftungen eine Botschaft in die Kameras hält, die von der Gruppe verstanden wird, auf deren Befindlichkeiten sie zielt. So wie man Sekundärtugenden kennt – Ordnung, Disziplin, Pünktlichkeit -, gibt es inzwischen Sekundärgefühle. Freude, Entsetzen, Trauer müssen nicht mehr eigens erlebt worden sein, sie werden erst vor-, dann nachgestellt.
Danke RTL, Sat.1, RTL 2,VOX, ProSieben.
Der oben erwähnte Bote aus dem echten Leben hat das Prinzip verstanden, mit dem er seinem Dasein Sinn verleihen kann. Zumindest seinen Sinn. Auf ein im heimischen Hobbykeller selbst gestaltetes Stück Pappe schrieb er, nach
langem Nachdenken, ein einziges Wort – das Wort »Warum?«. Diese Frage ist nicht nur eine allgemein übliche für alle Fälle des Lebens, insbesondere für jene, die tödlich verlaufen sind. Es ist die Frage aller Fragen. In der Praxis mit derselben Pappe auch auf den nächsten Fall von betroffener Öffentlichkeit anwendbar. Der Mann handelt zudem marktwirtschaftlich, weil er mit einem einzigen Produkt, einer einzigen Idee und vor allem einer nur einmal erbrachten Leistung größtmöglichen Effekt erzielt.
Antworten erwartet niemand von ihm.
Es darf um der Wahrheit willen übrigens nicht verschwiegen werden, dass er es mit seinem »Warum?« auch in öffentlich-rechtliche Sender geschafft hat. Meist stellt er sich neben Lichterkettchen oder Blumengebinde vor die polizeilichen Absperrungen als eine Art stummer Schrei. Bei einem besonders blutigen Anlass wie dem Amoklauf in Winnenden hält er eine verschärfte Variante in die Fernsehkameras, konfrontiert eine höhere Instanz mit der Frage:Wo warst du, Gott?
Wo wird ER gewesen sein?
Vielleicht war er gerade in Darfur oder im Irak oder in Afghanistan oder im Gazastreifen. Mag sein, dass er die bei solchen Ereignissen reflexhaft eingesetzten Symbole der Fassungslosigkeit – Kerzen, Teddybären, Blumen – psychisch einfach nicht mehr ertragen kann. Denn auch Gott hat eine empfindsame Seele. Die veröffentlichte Betroffenheit hat aus der privaten Kultur des Trauerns ein öffentliches Ereignis gemacht. Was einst niemand etwas anging, geht heute auch alle die was an, die es nicht betrifft.
Wo eine Kamera im Weg steht, ist immer der Wille da, sich vor der zu äußern. Die Bereitschaft zu vieler sogenannter Prominenter, in den Beichtstühlen der Medienwelt, den Talkshows, ihr Privatleben sicht- und hörbar zu machen,
alles über ihr Liebesleben, ihre sexuellen Gewohnheiten, den Stand ihres Vermögens oder die Silikon Valleys
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