Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
eine ganz andere Schere auseinandergeht, die zwischen Informationsarmen und Informationsreichen, und wie früh sich der Klassenunterschied schon zeigt, nämlich in der ersten Klasse.
Den Satz von Seneca, »Non vitae, sed scholae discimus« – Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir -, mit dem er das pädagogische Geschwurbel an römischen Philosophieschulen aufs Korn nahm, haben Generationen von Lateinlehrern unwidersprochen für ihre Zwecke umgedreht und falsch zitiert, nämlich: Non Scholae, sed vitae discimus, also dass man auf den Schulen fürs Leben lerne. Aber was von ihnen als Motivation gedacht war, um faule Schüler aufzustacheln, mit eigenen Beiträgen den Unterricht zu beleben, verpufft inzwischen im Hier und Nichts.
Mit lebenslang spürbaren, sichtbaren Folgen. Das zutreffende Schlagwort lautet Hartz-IV-Falle. »Drei Viertel der arbeitslos gemeldeten Jugendlichen ohne Schulabschluss beziehen Hartz IV«, stellte der Deutsche Gewerkschaftsbund in einer Studie fest, die der Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy im Februar 2009 vorstellte. Insgesamt neunhunderttausend Jugendliche zwischen fünfzehn und vierundzwanzig Jahren sind auf staatliche Hilfe angewiesen, im Osten mehr als im Westen der Republik, da ist es jeder sechste in der entsprechenden Altersgruppe, im Westen jeder zehnte. Wer einmal in dieser Falle gefangen ist, sagt die Untersuchung, habe ohne fremde Hilfe kaum Chancen, sich jemals aus eigener Kraft zu befreien.
Was hat das mit den oben erwähnten Kindern auf den Grundschulen zu tun? Jenes deutsche Sprichwort, dass Hans nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, umschreibt präzise deren Zukunft. Die Schande Kinderarmut
könnte zwar ein ja immer noch reiches Land wie Deutschland dadurch mildern, dass es einen gesetzlichen Anspruch auf ein Frühstück und eine warme Mahlzeit in allen Schulen gibt, in denen die Mehrheit der Kinder aus Familien kommt, die sich entweder darum nicht weiter kümmern, weil die Hauptnahrung der Eltern flüssig ist und es dafür bei ihnen gerade noch reicht. Oder weil es wirklich nicht mehr fürs Essen reicht und sich die Eltern schämen, das zugeben zu müssen oder gar sich mit ihren Kindern einzureihen in die Schlangen vor den Suppenküchen der Sozialverbände und der großen Kirchen. Die gehen in ihren Berechnungen davon aus, dass zweieinhalb Millionen Kinder unter die sogenannte Armutsgrenze fallen.
Nahrung aber braucht nicht nur der Bauch. Nahrung braucht auch der Kopf. Nahrung braucht nicht nur der Körper. Nahrung braucht auch die Seele. Das Leergut Kopf zu füllen haben sich die Fastfood-Hersteller der medialen Verblödungsindustrie als Ziel gesetzt. Die sind mit ihrem Speiseplan erfolgreich. Aus dem Tagebuch der Lehrerin X: »Der TV-Konsum wird immer schlimmer.Als ich einen Zehnjährigen frage, was er am liebsten in seiner Freizeit macht, antwortet er: abhängen vorm Computer oder vorm Fernseher. Die ALG-Familien unter meinen Schülern sind alle (!) ausgestattet mit Handy, DVD (Video ist doch überholt), PC und Playstation, von der die Spiele pro Stück fünfzig bis siebzig Euro kosten.Als liebster Film wird Die Mörderpuppe genannt, das ist Action pur, und was dort passiert, wird auf dem Schulhof brutal nachgespielt. Als ich eingriff, waren sich aber alle einig:Wir spielen doch nur. «
Während sich die Eltern der einen um alles kümmern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Lehrer beschweren, statt mal ihr Verhalten zu hinterfragen, betrachten die Väter und/oder Mütter der anderen die Schulen, in die
sie ihre Kinder schicken müssen, mal weniger, mal öfter, mal ohne Frühstück, mal mit, aber möglichst mit Handy, als eine Art staatliche Verwahranstalten. Ihre Kinder versäumen ihrer Meinung nach nichts, wenn sie zur Schule gehen.Vormittags werden nur die Sendungen im kommerziellen Fernsehen wiederholt, die schon am Tag zuvor oder spät in der Nacht gelaufen sind.
Was die Kinder der Unterschicht tagtäglich in ihren häuslichen Biotopen erleben, die von eingebildeten Ständen Seichtgebiete des Prekariats genannt werden, die es aber in all ihrem spießigen Schrecken tatsächlich gibt, gleicht dem Auftritt des sagenhaften Murmeltiers, das gestern so grüßte, wie es heute grüßt und wie es morgen grüßen wird. Solange sich an einem Alltag nichts ändert, der ursächlich ist für Fragen wie die des Neunjährigen, werden jeden Morgen die Lehrer mit den entsprechenden Auswirkungen konfrontiert.
Es ist deshalb Alltag an
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