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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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vielen Grundschulen normaler deutscher Städte, an denen laut hehrer Vorgabe des Gesetzgebers »sprachliche und mathematische Grundkenntnisse als Fundament für die Übergänge zu Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien« vermittelt werden sollen. Der früher gebräuchliche Name »Volksschule« statt »Grundschule« wäre heute übrigens wieder passend, weil sich dort im Grunde das eigentliche Volk sammelt.
    Als normal gilt, was vor wenigen Jahren noch örtliche Politiker aufgeschreckt hätte. »Solange sie sich nur verbal Gewalt antun, gegenseitig als ›Hurenkind‹ oder ›Arschloch‹, als ›Wichser‹ oder ›schwule Sau‹ beschimpfen, sind wir inzwischen so abgestumpft, dass wir so tun, als hätten wir es nicht gehört. Erst dann, wenn sie sich tatsächlich prügeln, schreiten wir ein«, sagt eine andere Lehrerin, die allerdings bis heute nicht verwunden hat, dass einer ihrer zehnjährigen Schüler in blinder Wut wegen ihrer Aufforderung, nicht
mehr auf einen bereits am Boden liegenden noch Kleineren zu treten, so auf sie einprügelte, dass sie im Krankenhaus behandelt werden musste.Verwunden nein, verziehen ja.
    Denn der kleine Schläger saß weinend im Klassenzimmer, als sie zurückkam in die Schule, und flüchtete sich in seiner Hilflosigkeit auf ihren Schoß. Sie musste ihn trösten, denn er wusste, dass er, wie er es ausdrückte, »große Scheiße gebaut« hatte. Seine Eltern hat sie trotzdem nicht informiert, weil sie ahnte, wie die reagieren würden. Die hätten ihn verprügelt, weil sie eine andere Sprache der Verständigung mit ihren Kindern nie gelernt hatten.
    Man nennt solch kindliches Verhalten auffällig oder gestört, je nach Schwere der Vorfälle. Zu viele Lehrer, die in ihrer Mehrheit nicht, wie das Vorurteil der eingebildeten Oberschicht lautet, faul sind, sondern am Ende ihrer Widerstandskraft, wissen sich in ihrer Hilflosigkeit nur noch mit dem Ruf nach speziellen Kindertherapeuten zu helfen. Deren Diagnose lautet am liebsten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADS, und zur Bekämpfung wird nicht etwa die Ursache erforscht, sondern schlicht das Syndrom mit Medikamenten behandelt. Ritalin heißt eines der Zaubermittel, das alle Probleme lösen soll. Zu möglichen Nebenwirkungen könnte man Ärzte oder Apotheker befragen.
    Gefeiert werden dagegen öffentlich jene Schulen, die sich nach den verheerenden PISA-Urteilen über das sich abzeichnende Dritte-Welt-Bildungsland Deutschland selbst aktiv aus dem Sumpf gezogen haben, obwohl sie ihre Zukunft hinter sich zu haben schienen. Da strahlen dann Rektoren, Schulräte, Schuldezernenten, auch mal der Bundespräsident, in die aufgestellten Kameras der verschiedenen Sender.
    Und alles scheint wieder gut.
    Doch der Schein trügt. Gegen die von diesen Sendern
verbreiteten Lebenshilfen in allen möglichen Dummy-Formaten, präsentiert von Lehrbeauftragten ohne Ausbildung, mit dem einzigen Auftrag, Quoten zu erzielen, haben die wirklichen Lehrer auf der untersten Sprosse der Bildungsleiter keine Chance. Sie können ihre Botschaften schließlich nicht singend, tanzend oder barbusig verkünden, sich als Germany’s Next Topmodel oder kommender Superstar verkleiden, damit ihnen die Kleinen auch lauschen, weil sie solche Anreize und Formate gewohnt sind von RTL und Sat.1 und ProSieben und Kabel eins und RTL 2 und Super RTL und Viva und VOX oder wie sie sonst noch heißen mögen, die Relaisstationen der niederen Instinkte.
    Die bringen ihnen ihre besten Freunde frei Haus. Nach deren Verhalten richten sie ihr eigenes Verhalten.Was die supergeil finden, halten auch sie für supergeil. In einer Untersuchung, repräsentativ für sechs Millionen deutscher Schulkinder zwischen sechs und dreizehn Jahren, der sogenannten KIM-Studie 2008, hat der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest festgestellt, dass »Fernsehen die wichtigste Rolle« spielt im Alltag der befragten jungen Deutschen. Das ist nicht erstaunlich. Diese erste große Liebe schlägt sich nieder in der Verweildauer vor dem Fernsehapparat, durchschnittlich 91 Minuten pro Tag. Lesen steht mit 23 Minuten abgeschlagen hinter Computerbenutzung und Radiohören auf Platz vier, und diese frühe Liebe prägt ihr Leben. Sie schauen nicht nur gebannt ins Programm, sie schenken dem Medium tatsächlich ihr Herz – oder in den Worten der Nachforscher: »Die Kinder weisen dem Fernsehen gegenüber eine hohe emotionale Bindung auf.«
    Da inzwischen quer durch alle Schichten fast die Hälfte aller Kinder

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