Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
Handy abgenommen, weil er allen Bitten zum Trotz während der Mathe-Stunde eine SMS verschickte. Mir egal, grinste der Kleine, er habe noch drei andere zu Hause. Sein Vater arbeite in einer Handyfabrik. Die Lehrerin, eine noch frisch-kräftige, junge, hatte es irgendwann satt, Morgen für Morgen die Schüler daran zu erinnern, ihre Handys auszuschalten. Stattdessen sammelt sie die vor Beginn des Unterrichts ein. Proteste ignoriert sie. Auch die von Eltern.
Einen Rest von ihrem einst so großen sozialen Engagement hat sich Lehrerin X trotz aller Erfahrungen des Alltags bewahrt. Viele Kollegen haben zum Selbstschutz solchen Ballast abgeworfen, den Glauben an ihre Möglichkeiten, etwas ändern zu können, längst aufgegeben. Sie aber, deren Namen man nicht nennen darf, um sie zu schützen vor Eltern, Kollegen, Schulräten, hat sich nicht auf die Beschreibung der Wirkungen beschränkt, sondern nach Ursachen geforscht. Mit auffällig gewordenen Kindern nach Schulschluss oder auf Klassenfahrten gesprochen und ihrer Pflicht bewusst bei Problemen, von denen sie erfuhr, die Eltern zu erreichen versucht. Erreichen ist im doppelten Sinne gemeint – einmal tatsächlich durch Hausbesuche, zum anderen mit Versuchen, in deren Gedankenwelt, wenn es da noch so
etwas wie Gedanken gab, vorzudringen und ihre Hilfe anzubieten.
Falls die gewünscht war.
Die war selten gewünscht.
Ihre Angebote wurden vielmehr als Störung empfunden. Ihre Bilanz ist deshalb ernüchternd.Wer sich engagiert, stößt schnell an Grenzen. Nicht nur an die eigenen, sondern auch an die in der Außenwelt vorhandenen, die staatlichen. Selbst dann, wenn ihre angebotene Hilfe akzeptiert würde, dauerte es Monate, bis zum Beispiel ein Mensch von der Jugendfürsorge oder gar eine Therapeutin, die nicht nur wie üblich Ritalin verschriebe, Zeit hätte für einen dringenden Fall. Auch diese Schieflage der Nation ist seit Jahren bekannt, geändert hat sich aber nichts.
Wie zum Teufel ein Kind auf die Frage kommt, ob die Frau Lehrerin gefickt habe, ist einfach zu beantworten. So reden die von und auf der Gosse. Früher wechselte man bei deren Anblick die Straßenseite, heute laufen die den Kindern auf fast allen Kanälen über den Weg. Der Unterschied zwischen Gosse und Gasse ist so groß wie der zwischen Prolo und Prolet. Dieser Unterschied ist nicht nur gewaltig, sondern entscheidend. Lässt sich ein Zusammenhang feststellen zwischen steigenden Quoten von verdummenden Formaten und sinkender Lust auf Lernen? Oder ist das nur eine Vermutung, basierend auf der natürlichen Arroganz von Bessergestellten und Bessergebildeten?
Muttis aus gehobenen Kreisen blicken angewidert auf das Treiben der Unterschicht. Warum die so sind, wie sie glauben, dass die sind, behaupten sie zu wissen. Sie verbieten ihren Kindern deshalb den Konsum bunt-prolliger Fernsehwelten. Erlauben nur Dokumentationen auf Phoenix oder Übertragungen von Opern auf Arte. Sagen sie. Was so verlogen ist wie ihre auf ihr eigenes Leseverhalten bezogene
Behauptung, nur »Zeit« und »Spiegel« und »FAZ« zu lesen, obwohl sie doch beim Klatsch mit Freundinnen über jede neue Liebelei von Nadja Abd El Farrag oder Michelle Hunziker herziehen, wovon sie doch nur aus den üblichen, ihnen angeblich doch so verdächtigen Klatschorganen erfahren haben konnten.
Jeder Schul-Pups ihrer Nachkommen ist ihnen einen gewaltigen Donner wert, den sie am liebsten über die Lehrer abladen. Alles natürlich zum Wohl ihrer Kinder. Aber die Verblödung wächst auch bei den vermeintlich nicht so Blöden, die alles tun, damit es ihren Schätzchen gut geht und ihre Schätzchen nicht nur Englisch als Pflichtzweitsprache in der Grundschule haben, sondern auch noch bei der Arbeitsgemeinschaft Spanisch angemeldet sind, bei der AG Internet, damit die Mädchen tanzen lernen, falls sie später mal Ballerina werden wollen, und die Jungs Einzelunterricht im Tennisclub bekommen, statt mit ihren möglicherweise doch vorhandenen Freunden draußen zu spielen. Die Kinder sollen es doch mal besser haben als wir, nicht wahr?
Was sie nicht haben: Zeit für ihre Kinder.
Was gut für die ist, bestimmen nur sie. Gut sind zum Beispiel bessere Schulen, egal, wie weit die von ihrer Wohnung entfernt sind, Hauptsache weit weg von den normalen Grundschulen, über die sie so viel Schlechtes gehört haben. Zur Not muss man halt umziehen. Gut sind fortbildende Maßnahmen, für die sie selbst den Stundenplan aufgestellt haben. Für diese verschiedenen
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