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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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war das von den jede freie Wahl scheuenden Politbürokraten nicht gemeint. Diese realistische Bewertung ihrer tatsächlichen Herrschaft blieb dem Klassenfeind vorbehalten. Die Einschätzung, dass es sich beim SED-Staat um eine real existierende deutsche Diktatur handle, wurde gekontert
mit den klassischen Mitteln der Gegenpropaganda, was ihnen lange Zeit nicht schwerfiel, weil in der Bundesrepublik die bürgerlichen Nationalsozialisten wenige Jahre nach der Befreiung bereits wieder zur herrschenden Klasse gehörten.
    Die proletarische Elite betrachtete ihre den Menschen gerecht werdende Diktatur, die mit einer richtigen Diktatur, gar mit der untergegangenen deutschen, nichts gemein hätte (was prinzipiell richtig ist, denn die eine stand für Auschwitz, die andere für die Mauer, und die eine ist mit der anderen in ihrer mörderischen Substanz nicht vergleichbar), als einen von der Arbeiterklasse getragenen vorübergehenden Zustand, der höchstens bis zum endgültigen Sieg der Weltrevolution währen sollte. Sie gaben vor, freiwillig einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus eingeschlagen zu haben.Wenn Letzterer erst einmal gesiegt habe, also ideale Zustände auf Erden existieren würden, woran nicht zu glauben im Paradies der Arbeiter und Bauern bei Strafe verboten war, dann sollte die bis dahin notwendige Diktatur des Proletariats beendet werden.
    Mit dieser Theorie von Marx und Lenin legitimierte die SED vierzig Jahre lang ihre Herrschaft, bis es das systematisch für dumm verkaufte Volk satthatte, auf die versprochenen sozialistischen Wunder zu warten, weil sichtbar war, dass die Architekten der Zukunft in Wahrheit nichts weiter waren als Ruinenbaumeister. Über Nacht jagte es sie zum Teufel. Woran erinnert dieses Wunder?
    Richtig, an ein Märchen.
    Sieh da, sagte einst das Kind, der Kaiser hat ja gar keine Kleider an. Der ist ja nackt.
    Für das Individuum, für einen mündigen Bürger, gab es in der DDR keine Freiräume.Wer sich gegen den Anspruch der Einheitsproleten wehrte, im Besitz der Wahrheit zu sein, wurde – beruflich, privat, gesellschaftlich – rücksichtslos als
Verräter an der Arbeiterklasse ausgegrenzt, aller Chancen auf eine anständige Zukunft beraubt oder weggesperrt.Was zur Folge hatte, dass bis zum Bau der Mauer 1961, womit dann alle eingesperrt wurden, rund 2,1 Millionen Bürger, die in ihrem Land als Bürger rechtlos waren, der DDR den Rücken kehrten.
    Was wiederum zur Folge hat, dass es heute der Gesellschaft Ost an Bürgern fehlt, also der für eine Zivilgesellschaft nun mal notwendigen Substanz.
    Im Westen, wo sich in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Nachgeborenen endlich von ihren Nazivätern befreiten, wuchsen sie in die Gesellschaft integriert zu mündigen Bürgern heran. Als endlich doch ein Wunder geschah und die Mauer fiel, feierten zunächst alle, Ost wie West, gleichermaßen trunken vor Glück und viele betrunken vom Sekt fröhlich den Sieg der Demokratie, umarmten die Freiheit, besangen gemeinsam die ihnen leuchtenden Götterfunken. Nach abgeflautem Orgasmus und dem Vollzug der deutschen Ehepflichten – »post coitum omne animal triste!« – stellte sich bald heraus, was in den neuen Bundesländern neben vielem anderen fehlte: Bürger und eine wehrhafte Zivilgesellschaft.
    Das merkten zuerst die Neonazis. Sie machten sich, angetrieben von Funktionären aus dem Westen, in demokratiefreien Zonen breit. Gewannen Zuspruch ausgerechnet im Osten, wo der Antifaschismus jahrzehntelang von Staats wegen gepredigt wurde. Gepredigt ja.Aber gespeist von niedrigen Intelligenzquotienten – doch wie man seit dem Dritten Reich weiß, schützt Bildung nicht vor geistiger Verrohung -, war der Dreck nur unter die Teppiche gekehrt worden. Man hatte nur so getan, als habe es nach dem Krieg im anderen Teil Deutschlands keine Nazis mehr gegeben. Nach der Einheit staubte es braun, als die Teppiche entfernt wurden.
Gewaltbereite junge Männer atmeten den aufgewirbelten Staub ein. Und der stieg in die eh leeren Köpfe. Aus Verblödung wächst Verrohung.
    Was noch kein Grund ist, pauschal ein Loblied auf die Bürger West anzustimmen.Viele dort fordern ihre Rechte als freier Bürger nicht nur ein, wenn es gilt, einer in autoritäre Verhaltensmuster zurückfallenden Obrigkeit die Kante zu zeigen. Protestieren nicht nur dann, wenn es dringend geboten ist, sich lautstark zu wehren gegen Versuche einer Regierung, dem Leviathan Staat zu viel Futter zu geben.
    Nein,

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