Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
Wendt von der anderen deutschen Polizeigewerkschaft (DPoIG) sieht Polizisten als Leidtragende der sozialen Verwahrlosung. Die Täter greifen sich Uniformierte als Sündenböcke, weil sie »Politiker nicht erreichen können. In Berlin oder im Duisburger Norden gibt es Stadtteile, in denen sich die Kollegen kaum noch trauen, ein Auto anzuhalten, weil sie wissen, dass sie dann 40 oder
50 Mann an der Backe haben«, klagte er in einem Interview mit »Spiegel Online«.
Während für wandernde Kröten und ähnliche Kriechlinge unter großem Aufwand entweder deren Leben rettende Tunnels unter viel befahrenen Straßen gebaut werden oder für aufrecht rennende Säugetiere Brücken über Autobahnen, auf denen freie Bürger ihr Grundrecht auf rasend freie Fahrten blinkend ertrotzen, bleibt für alte Menschen nur die Flucht nach vorne. Falls sie dabei unter die Räder kommen, ist das eben Schicksal. Aber nicht gar so schlimm, weil sie sowieso nicht mehr so viel Leben übrig haben. Ampeln an den Fußgängerüberwegen sind oft so geschaltet, dass nur austrainierte Jungdeutsche es über die Straße schaffen, bevor das Signal wieder aufs rote Männchen (Ost) oder die pure Farbe Rot (West) springt. Wären die Verantwortlichen vom Straßenbauamt – oder wie immer die zuständige Behörde heißen mag – im Alter der gehetzten Alten, würden sie selbst mal erleben, wie lange man braucht, um die andere Straßenseite zu erreichen, wäre das Problem längst gelöst. Einfach nur ein anderer Rhythmus in der Ampelanlage programmiert. Aber auch sie sind zunächst und in erster Linie – na was denn wohl? – Autofahrer, und die treten zu gern aufs Gas, sobald ihre Ampel Grün zeigt.
Es gibt zu viele Prolos auch unter Taxifahrern. Nicht nur, dass sie auf ihren selbst bestimmten Rechten bestehen, weil sie nicht verwechselt werden wollen mit normalen Autofahrern, die sie für dahinschleichende Arschlöcher halten, die ihnen durch regelgerechtes Fahrverhalten den Broterwerb erschweren. Die Drotschkisten in Berlin verlieren sogar »offenbar sofort ihre Lizenz«, schrieb der Kolumnist Klaus Kocks in der »Frankfurter Rundschau«, falls an ihnen Anzeichen von Umgangsformen oder auch nur Freundlichkeit festgestellt würden.Wenn sie zum Beispiel Müttern mit
Kindern helfen oder einer alten Dame behilflich sein würden, das schwere Gepäck in den Kofferraum zu wuchten. Immerhin sind sie ja bereit, per Automatik von ihrem Sitz aus den Kofferraumdeckel zu öffnen.
Von den verallgemeinernden Beispielen zum Besonderen. Um den Trend weg von Kant, wonach das eigene Handeln stets anderen als Vorbild dienen sollte, hin zur Kante, wonach man rücksichtslos gegen andere handeln darf, belegen zu können, braucht es keine Trendforscher. Jene Scharlatane des Unbelegbaren, die auf ihre Art viele Jahre lang bei blöden Gläubigen mit ihren in des Kaisers neue Kleider gehüllten Zukunftsprognosen – Horx, was kommt von draußen rein? – erfolgreich waren, haben seit Ausbruch der großen Krise ihre Zukunft hinter sich.Was sie auf Symposien, in Büchern, bei Kongressen erzählt und mit allerlei Fremdwörtern untermauert haben, ist im Wahrheitsgehalt vergleichbar mit dem, was einst in der DDR an Parolen bei den verordneten jährlichen Aufläufen zu lesen war.
Kante statt Kant ist nicht nur typisch für die Unterschicht, weil dort in Ermangelung von Sprachgewalt die Auseinandersetzungen mit rücksichtsloser Gewalt entschieden werden. So aggressiv geht es auch in besseren Kreisen zu. Der Fahrer eines teuren Jaguars, einer Automarke, die beim Prekariat selten anzutreffen ist, gehört ja eher zur Oberschicht.
Zum Beispiel der hier:
In der Nacht zum 26. Januar 2008 war der 29-jährige Dzevad Johic in einem Hamburger Vorort mit seinem Fahrrad unterwegs zu seinem Arbeitsplatz. Er musste so früh am Morgen anfangen, um pünktlich in Kaltenkirchen zu sein, denn Johic arbeitete als Lokführer einer privaten Bahngesellschaft, die in Schleswig-Holstein verkehrt. Er kam nie in Kaltenkirchen an. Ein betrunkener Autofahrer rammte ihn. Johic lebte nach dem Zusammenprall noch, wie die Gerichtsmediziner
später feststellen, er lag zwar verblutend auf der Straße, aber er hätte noch gerettet werden können.
Doch weil der Unfallverursacher, wie das im Juristendeutsch heißt, seinen drei Tonnen schweren Wagen ein paar hundert Meter nach dem Zusammenprall wendete und das Opfer noch einmal überrollte, hatte dieses keine Chance zu überleben. Johic starb auf der Straße. Der
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