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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Mitleid zeigt. Kante statt Kant lautet auch das Motto für unmoralisches Verhalten im Alltag. Ein geradezu erschreckend gutes Beispiel dafür ist jener Sachbearbeiter des Sozialamts in Göttingen, der einem Bettler nicht etwa ein paar Cents in die vor dem Mann stehende Blechdose warf, aus der er als Beamter nie würde fressen müssen, sondern grob schätzte, was drin lag. Etwa sechs Euro. Am Tag drauf, auf dem Weg zur Mittagpause, prüfte er erneut, erneut ohne was von sich zu geben. Diesmal waren es von dem Groben geschätzt nur etwa 1,40 Euro. Der Sozialleistungsbeamte ging zurück in sein geheiztes Zimmer, waltete dort seines Amts, errechnete einen Durchschnittswert möglicher Tageseinnahmen des Bettelnden, denn er hatte ja nur zählen können, was bis Mittag in der Büchse lag. Mit dieser Aufgabe war er tagelang beschäftigt. Schön für ihn, hatte er doch was zu tun.
    Aber warum wird diese Geschichte aus einem deutschen Alltag ausgerechnet hier erzählt? Hat doch nichts mit dem Thema zu tun, oder doch?
    Doch.
    Der Hochrechner im Dienst kannte den Mann nämlich
als Kunden seiner Abteilung, die Göttinger Hartz IV-Empfänger zu betreuen und ihnen ihr Geld auszuzahlen hat. Beim betreffenden Bettler von der Straße beträgt die Summe 351 Euro pro Monat. Davon konnte der Mann nicht leben, deshalb setzte er sich vor einen Supermarkt und bat Einkaufende um ein paar Almosen. Die gaben ihm gerne. Nur von der Amtsperson bekam er statt Almosen ein amtliches Schreiben. In dem wurde ihm mitgeteilt, dass aufgrund von Hochrechnungen, basierend auf geschätzten Einnahmen durch Bettelei, was als Zusatzeinkommen betrachtet werde, vom Regelsatz monatlich 120 Euro abgezogen würden, also fast ein Drittel. Mit freundlichen Grüßen. Ihr Sozialamt.
    Proteste ließen den Beamten kalt. So stehe es im Gesetz, und daran halte er sich als getreuer Untertan. Nach wenigen Tagen aber ließ der SPD-Bürgermeister der Stadt, moralisch unterstützt vom CDU-Sozialminister des Landes Niedersachsen, die Anordnung zurücknehmen und untersagte zukünftige ähnliche Gesetzestreue von Beamten, die sich sekundärtugendhaft für genau die Bürger halten, die ein Staat in Krisenzeiten brauche.
    Bürger hielten sich zu anderen Zeiten, egal, wie schlecht es ihnen ging, was darauf zugute, in jeder Lebenslage wenigstens die Form zu wahren. Diese Haltung hatten sich viele vom Adel abgeschaut. Selbst die Blöden dieser beiden Stände, die zahlreich waren, aber wegen der den Alltag dominierenden Proleten nicht so auffielen, wussten zumindest, wo das Klavier stand, auch wenn sie nicht darauf spielen konnten.
    Nachdem aber die überwältigte Mehrheit der gebildeten Deutschen, Reihen dicht geschlossen, die spießigen Kleinbürger der gemeingefährlichen Himmler-Sorte fest untergehakt, dem aus Österreich stammenden Prolo Adolf Hitler gefolgt war, was dann Millionen ihrer jüdischen Mitbürger
das Leben kostete, was dann viele anständige Proleten, die beim braunen Pack nicht mitmarschieren wollten, das Leben kostete, was die dann endlich besiegten Deutschen ihre nationale Einheit kostete, hatte diese selbst ernannte Elite ihren einst selbstverständlichen Anspruch auf Führung verloren.
    Selbst wenn sie für ihre Untaten, Mörder oder Schreibtischtäter, auf Erden nicht zur Verantwortung gezogen wurden und ungestraft davonkamen – irgendwann werden auch sie drankommen. Beim Jüngsten Gericht sind alle Verbrecher gleich, egal, in wessen Namen sie gemordet haben. Man müsste allerdings an eine göttliche Gerechtigkeit glauben.
    Die irdische Konsequenz des politisch-moralischen Sündenfalls war zu besichtigen in der inzwischen ehemaligen DDR, wo das hehre Ziel einer gerechten Gesellschaft, in der alle Menschen gleich seien, keiner den anderen ausbeuten würde, verwirklicht werden sollte. Die Theorie hörte sich menschlich anspruchsvoll visionär an, doch die regierenden Einheitssozialisten setzten bekanntlich die Vision von einer besseren Welt in der Praxis auf diktatorische Art um. Statt gleiche Rechte für alle zu garantieren, schalteten sie rücksichtslos alle ihre Staatsbürger mit allen Mitteln gleich. Wer sich wehrte und sich auf die DDR-Verfassung berief, wo ja, theoretisch zumindest, alle Freiheiten garantiert waren, wurde mundtot gemacht.
    Oder auf der Flucht erschossen.
    Die Lehre von der Diktatur des Proletariats war Pflichtfach in den Schulen. Der Begriff »Diktatur« hätte den realen Zuständen im anderen deutschen Staat zwar entsprochen. So aber

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