Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
ihre Plätze einzunehmen, alle Handys auszuschalten und sämtliche Privatgespräche zu beenden. Seine letzte Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, wird mit empörtem Murren registriert. Er lasse sich nicht von einem Bediensteten den Mund verbieten, sagt einer, der von hinten so aussieht wie Bernd Clüver.Wie sich zeigt, ist es doch nur Andy Borg, bei alten Unterschichtlern so bekannt und beliebt wie Dieter Bohlen bei den jungen. Aber als ihm keiner zur Seite springt, hält auch er den Mund.
Nicht nur die bekannten Helden der Jungen und die Produzenten ihrer Formate sind aufgefordert worden, Zeugnis abzulegen, auch die Programmverantwortlichen deutscher
Fernsehsender, die in der Öffentlichkeit niemand und außer ihren Untergebeben auch sonst kaum jemand kennt, wurden geladen. Ein Vorwurf, der vor dem Ausschuss auf seine Substanz hin untersucht werden soll, lautet ja, dass ARD und ZDF sich der Strategie der Blödmacher von Sat.1 und RTL und ProSieben und VOX angepasst haben, statt mit hauseigener Qualität zu kontern.
Eingeladen als Gutachter sind die Ministerinnen Ursula von der Leyen und Annette Schavan, vorgeladen sind Buchverleger und deren Erfolgsautoren – die da, ist das Charlotte Roche? Und der da, ist das Bushido? – sowie Chefredakteure von »Bunte« und »Gala« und »Frau im Spiegel« und »Bild« und »Super Illu«. Die haben es aber in einer gemeinsamen Protestnote abgelehnt, vor dem Ausschuss zu erscheinen, weil die angebliche oder tatsächliche Verblödung mit ihrer journalistischen Arbeit nichts zu tun habe und sie zudem ihre Informanten schützen müssten.
Der Saaldiener wiederholt seine Bitten, denn in wenigen Minuten werde mit den Befragungen begonnen. Diese Ankündigung sorgt tatsächlich für Ruhe. Alle hoffen darauf, dass sich der unmittelbare Konkurrent oder die direkte Konkurrentin bei einer Befragung möglichst blöd anstellen und sie selbst dann laut was zu lachen haben. Da dies aber alle hoffen, kann es in der Tat gleich ziemlich heiter werden.
Im Nu sind alle Stühle besetzt
Nur Annette Schavan, die vorgesehene Gutachterin zum Thema Schule und Erziehung, findet keinen freien Stuhl mehr. Sie war vertieft in die Lektüre des FAZ-Feuilletons, in dem Frank Schirrmacher in einer leidenschaftlichen Philippika ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender gegen die Attacken des CDU-Quotenjägers Roland Koch verteidigte, was im Übrigen auch ihrer Meinung entsprach, und hat deshalb die Aufforderung überhört, Platz zu nehmen.
Ihre persönliche Referentin beugt sich runter zu Jörg Pilawa. Sie bittet ihn leise, was aber im ganzen Saal gehört wird durch das Mikrofon, das er wie alle anderen Männer im Saal am Revers trägt – die Frauen haben es in ihre Dekolletés gesteckt -, ob er nicht so freundlich sein könne, der Ministerin seinen Stuhl zu überlassen. Pilawa lehnt kategorisch ab. Erstens kenne er die Dame nicht, weil sie noch nie bei ihm in der Sendung war, zweitens sei er zuerst da gewesen, und drittens sei er nicht hier wegen einer möglichen Verwandtschaft zum Freiherrn von Knigge, sondern als der bekannte Quizling vom Ersten.
Neumann verweist noch einmal auf den Artikel 44 des Grundgesetzes, wonach der Bundestag das verbriefte Recht hat, und auf Antrag »eines Viertels seiner Mitglieder sogar die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise zu einem bestimmten Problem erhebt«. In dem Fall heute gehe es um die Frage, ob die Deutschen, verursacht durch bestimmte Fernsehformate, aber auch durch bestimmte Bücher, Zeitschriften, Zeitungen heute dümmer seien als Deutsche zu früheren Zeiten und ob das die Demokratie gefährde.
Genau darum geht es heute. Um eine mögliche Gefährdung der demokratischen Gesellschaft. Die befürchten auch die neben ihm sitzenden Delegierten der anderen im Bundestag vertretenen Parteien, und entsprechend ernsthaft haben sie sich auf diesen Tag vorbereitet. Zuvor hatten die meisten von ihnen von dem, worüber sie befinden sollten, zwar noch nie was gesehen, weil sie nicht zur Zielgruppe gehören, aber aus vielen Abstimmungen waren sie daran gewöhnt, auch dann per Handzeichen ihre Meinung kundzutun, wenn sie von einem zur Entscheidung anstehenden Problem nicht alles verstanden. Jede Fraktion hatte für jedes
Problem Experten in ihren Reihen, und wenn die das Zeichen gaben, wurde entsprechend reagiert.
In einem dreistündigen Schnelldurchlauf haben sie gemeinsam in der Parlamentarischen
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