Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
nutzte konsequent wie sein Parteifreund, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard
Schröder, die Möglichkeiten einer demokratischen Gesellschaft, die zumindest theoretisch gleiche Chancen für alle bot, bis er an der Spitze angekommen war. Seine Stadt hält der allzeit in Berlin bei relevanten und auch irrelevanten gesellschaftlichen Anlässen einsetzbare Aufsteiger werbewirksam für »arm, aber sexy«, was sich deckt mit der Einschätzung der Avantgarde, die es nach Berlin zieht.
Zu Wowereits Freunden gehört das CDU-Parteimitglied Udo Walz. Man kennt sich.Als der Friseur im Sommer 2008 unter die Haube kam und seinem Lebensgefährten das Jawort gab, traf sich die Gesellschaft, die er in seinen Salons unter die Haube bittet, um die Hochzeit ihres Kopfhegers gebührend zu feiern. Als Trauzeuginnen traten »Bunte«-Chefredakteurin Patricia Riekel und die erste Ex von Boris Becker auf, Barbara. Zum abendlichen Fest gab ihm der Regierende mit seinem Partner die Ehre, und selbstverständlich wurde am Tag danach in der Boulevardpresse über das angeblich gesellschaftliche Großereignis groß berichtet.
Die Unterschiede zu einem anderen Promi sind hörbar, sichtbar, und sie sind gewaltig. Beide Berliner wohnen zwar auf demselben Stern. Allerdings leben sie in verschiedenen Welten. Mario Barth ist das grölende Symbol für den Absturz eines Teils der Gesellschaft ins Untergeschoss, wo sich die Toiletten befinden und der Refrain vom Pullern das normale Plätschern übertönt. Udo Walz symbolisiert den Aufstieg aus dem Proletariat ins Hochparterre, was in der Hauptstadt schon als bürgerliche Beletage gilt. Er ist freundlich, höflich, diskret, und in seinen Salons plätschert nur sanfte Musik vom Band.
Von denen, die sich heute als gesellschaftlich relevant empfinden, wären früher die meisten zu besseren Gesellschaften nicht eingeladen worden. Nicht nur, weil die in anerzogener arroganter Überheblichkeit als unterschichtige
Proleten betrachtet und dementsprechend behandelt wurden, sondern vorgeblich aus reiner Nächstenliebe. Man gab vor, sie vor demütigenden Erlebnissen zu schützen, denn sie gehörten nun mal nicht in diese Spielklasse und kannten deshalb auch die dort geltenden Gesetze nicht.
Mittlerweile haben die Außenseiter der Gesellschaft, erst sachte, sachte, Schritt für Schritt sich vorwagend auf die nächste Stufe, die ihnen als Spielplätze zugewiesenen Hintertreppen verlassen – überall im Land, nicht nur in Berlin, und die Freitreppen betreten. Anfangs fremdelten sie noch auf dem ihnen fremden Terrain. Sobald sie merkten, dass sie unter den angeblich oberen Zehntausend gar nicht weiter auffielen, dass sie den jeweils tonangebenden Angebern im Auftreten und Verhalten ganz ähnlich waren und umgekehrt die ihnen, beschlossen sie zu bleiben.
Viele haben seitdem festen Boden unter ihren Füßen. Das fängt bei Roberto Blanco und Patrick Lindner an und hört bei Dolly Buster und Gina Wild noch lange nicht auf. Wer gemein wäre, würde es mit einem übergeordneten Begriff eine Art von Robertoblancoisierung der deutschen Gesellschaft nennen, was aber nichts mit dem üblen alltäglichen deutschen Rassismus zu tun hat. Roberto Blanco, der irgendwann irgendwas Erfolgreiches gesungen hat, das die Masse zum Schunkeln und Klatschen animierte, ist nicht etwa ein Hofnarr, den sich die Gesellschaft – ein bisschen Spaß muss sein – zum Vergnügen hält. Er steht für alles, was peinlich ist und sich peinlich benimmt. Selbst dagegen wäre nichts zu sagen, wenn sich die Peinlichen nur dann peinlich benähmen, sobald sie unter sich sind. Dann wäre ja, logisch, nichts peinlich.
Aber sie breiten sich aus.
Die aus Film, Funk und Fernsehen bekannten Gestalten, viele aus Zufall gerade frei, dürfen auf zu vielen Gästelisten
nicht mehr fehlen. Diese Seilschaften sind im Gegensatz zur eigentlichen Society nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden, wie die es einst war. Die wirklich feine Gesellschaft von Hamburg traf die wirklich feine Gesellschaft von München ja eher selten. Heute fliegen sie sich auf Mallorca oder auf Sylt gegenseitig in die freudig ausgestreckten Arme.
Wenn irgendwo in Deutschland ein Event ansteht, was früher gemeinhin als geselliges Beisammensein oder Betriebsfest bezeichnet wurde und unbemerkt von der Gesellschaft über irgendeine Provinzbühne ging, will der geldgebende Gastgeber vom Organisator wissen, ob welche kommen, die er aus der Glotze zu kennen glaubt. Weil es mehr Feste gibt als
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