Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
eine Grenze, ohne sich wenigstens erkundigt zu haben, wohin sie führte. Allerdings verschwendete er keine Zeit darauf, das Mädchen zu befragen. Wer am helllichten Tag in Verkleidung herumlief, dessen Aussagen hatten ihre eigene Wahrheit. Stattdessen tastete er mit seinen besonderen Sinnen die Umgebung ab: das Gras am diesseitigen Ufer, den toten Bacharm, das Gras am anderen Ufer.
Doch da war nichts.
Absolut nichts. Kein noch so fahler Aurenhauch, keine Anzeichen elfischer Aktivitäten. Nichts, was auf die Existenz magische Schranken hinwies, kein Bann, kein Fluch. Nein, das Land unter Alebins müden Füßen war vollkommen unbelastet. Millicents
Grenze
entstammte also entweder ihrer Fantasie, oder sie war von Menschenhand geschaffen.
Vielleicht haben sie den Steg vermint. Mit Plastikdynamit aus der Requisite
, dachte er sarkastisch.
Die Rufe der Dorfbewohner wurden lauter. »Harry! Beeile dich!«
Fragend wandte sich Alebin an Millicent.
Doch sie kam ihm zuvor. »Ihr solltet jetzt wirklich gehen, Herr!«, drängte sie.
»Millie!«, brüllte ihr Vater herüber. »Was machst du da noch?«
»Ich muss los.« Gehetzt blickte sie sich zu den Dörflern um, dann auf Alebin. Sie nickte ihm zu. »Geht jetzt. Bitte!«
Alebin wollte protestieren. Wollte ihr sagen, was er davon hielt, dass ihn Millicent einerseits vor den Gefahren des Moors warnte und ihn andererseits genau dort hinschickte. Aber seine Worte würden sie nicht erreichen, sie würden untergehen im anschwellenden Geschrei der Dorfbewohner.
»Harry, lauf! Lass den Wagen stehen! Lauf!«
Alebin wandte sich um. Abendrot leuchtete am Horizont, ein letzter Streifen mit goldenem Saum. Die Sonne verging darin. Nur ihr Rand war noch zu sehen – und er zerschmolz im Sekundentakt.
»Harry!«
Der alte Mann hatte sich beeilt, war schon nahe am Dorf. Der Elf konnte bereits sein Gesicht erkennen und die Verbissenheit in seinen Zügen. Dieser Kerl würde den Bollerwagen nicht stehen lassen, da war sich Alebin sicher.
»Lauf! Lauf!«, drängten die Dörfler.
Plötzlich drehte sich der Wind, kam aus Südwest und rauschte durch die Weiden am nahen Bach. Alebin fuhr zusammen. Etwas lag in der Luft. Es fühlte sich an wie … Er fand nicht die passenden Worte dafür. Eine fremde Präsenz. Kein Mensch, kein Tier – eher eine Aura.
»Lauf!«, hörte sich Alebin rufen. Erregung hatte ihn erfasst, machte ihn fiebrig. Dabei waren ihm andere Leute eigentlich herzlich egal.
Der Sonnenrand wurde flach.
»Harry, lauf! Schnell!«, schrien die Dorfbewohner. Die Angst in ihren Stimmen übertrug sich auf den alten Mann. Endlich ließ er den Bollerwagen los und begann zu rennen.
Etwas nahte von links, quer zu Harry, von der Straße nach Whispering Willows her. Da war ein Schatten zwischen mannshohen Hecken und wildem Gesträuch. Alebin konnte seinen Weg verfolgen, denn das Gewirr aus Zweigen beulte sich hintereinander aus. Wie unter schnellen Peitschenhieben.
»Har-ry! Har-ry!«
Die ganze Atmosphäre war erfüllt von diesem einen Wort. Man hörte nichts anderes mehr, nicht den Wind, nicht die eigene Stimme.
Harry war fast heran. Alebin sah ihn keuchen, sah die Panik in seinen Augen.
»Du schaffst es, Harry!«
Die Sonne verschwand.
Kaum merklich änderte sich das Licht, nahm eine andere Farbe an.
Die Blaue Stunde
, schoss es Alebin durch den Kopf.
Wenn Grenzen fließend werden. Da berührt die Anderswelt das Menschenreich
.
Eine Botschaft drang an sein Ohr. »Töö-tenn! Töö-tenn!«
Sein Blick flog zu Harry. Zwanzig Meter noch.
Die Dorfbewohner hatten sich in Alebins Richtung gedreht, sahen knapp an ihm vorbei. Und sie schrien! Angst erfasste den Elfen. Er versuchte, sich zu wappnen für das, was hinter ihm war, ruckte herum.
Das Ende der Hecke wurde zum Höllenportal, explodierte förmlich … und spie eine Bestie aus. Nachtschwarze Pranken trugen sie heran; unaufhaltsam, vom Schub kräftiger Hinterläufe in den Jagdsprint beschleunigt. Ihre Augen waren auf Harry fixiert. Der Mann begann zu schreien und rannte um sein Leben.
Zehn Meter noch.
Harry war ein ganzes Stück vom Steg entfernt, hielt in seiner Not geradewegs auf den Sumpf zu. Die Bestie wollte ihm den Weg abschneiden, daran bestand kein Zweifel, und dieser Weg … führte an Alebin vorbei. Der Elf zögerte nicht länger. Mit raschen Schritten überquerte er die Brücke. Millicent stand noch immer an ihrem Platz, streckte ihm abwehrend die Hände entgegen. »Nein! Nein! Nein!«, rief sie, doch es kümmerte
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