Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
»Nur, wie gehen wir vor, wenn wir Lyonesse erreichen?«
»Mit Bedacht!« Cunomorus nickte heftig. »Mit Bedacht! Das Schwierigste wird sein, an dem magischen Sturm vorbeizukommen, der wie ein Schutzwall hinter der Grenze liegt.« Er erzählte den beiden vom Schicksal der Schmetterlinge und beendete seinen Bericht mit den Worten: »Das ist Geistermagie, und zwar von der übelsten Sorte. Wer immer Lyonesse überfallen hat, muss sehr alt sein, denn diese Art der Zauberei ist schon seit Langem nicht mehr in Gebrauch. Zu gefährlich – auch für den, der sie praktiziert.«
»Na großartig,« kommentierte David brummend. »Also, mal angenommen, wir würden es schaffen, den Sturm zu durchbrechen. Was käme als Nächstes?«
»Wir müssen zur Hauptstadt«, antwortete der König. »Die Stadt der Löwin. Meine Residenz. Von dort kam der Impuls, den ich empfangen habe – die Aura einer fremden Präsenz. Auch Talamhs Lebenszeichen kamen von dort. Ich nehme an, dass sich der Eroberer mit Eurem Sohn in meinem Palast verschanzt hat. Er steht auf einer Anhöhe im Zentrum und überblickt die ganze Stadt. So ist er gut zu verteidigen.«
»Und wie kommen wir da hin?«
»Durch die Rosenfelder. Da hält sich seit der verlorenen Unsterblichkeit kaum noch jemand auf. Was jetzt noch blüht, welkt dahin und versteinert, und die nachwachsenden Knospen wollen sich einfach nicht öffnen. Wir hätten gute Chancen, ungesehen bis in die Nähe der Hauptstadt zu gelangen. Aber was dann geschehen soll, das …« Cunomorus schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
»Es wird sich finden, wenn wir dort sind!« David warf einen fragenden Blick auf Nadja, und sie nickte zustimmend.
Gähnend lehnte sich der Elf zurück und lauschte eine Weile auf das Prasseln der Flammen.
»Ich würde gern mehr über Lyonesse erfahren«, sagte Nadja. »Wie ist das Reich entstanden? Lebten dort nicht Menschen, bevor es unterging?«
»Menschen?« Cunomorus wiegte bedächtig den Kopf. »Ja, zuerst. Seit dem … Untergang und dem Übertritt hat sich die Bevölkerung vermischt. Ihr trefft in Lyonesse heutzutage Sterbliche, Elfen und Halbelfen an. Nun ja. Ich könnte Euch seine Geschichte erzählen, wenn Ihr sie hören möchtet, so, wie sie überliefert ist und ich sie schon seit langer Zeit miterlebe.« Er zwinkerte. »Jedenfalls unterscheidet sie sich vermutlich von dem, was Ihr wisst.«
Nadja und David kuschelten sich aneinander. Und während der Wind allmählich verebbte und die Kirchturmuhr im nahen Dorf Mitternacht schlug, begann der alte König zu erzählen: »In grauer Vorzeit, als Britannien von den Kelten besiedelt wurde, gab es einen König namens Magusan, das bedeutet: der Mächtige.«
Magusan war der erste Herrscher des Inselreiches, der einen Löwen als Wappentier auswählte und damit eine Tradition anstieß, die durch alle Jahrhunderte und alle Häuser erhalten blieb. Ob Angelsachsen, Plantagenets oder Tudors – Artus, Richard Löwenherz oder Heinrich VIII. –, jeder Monarch in der wechselhaften Geschichte Englands, dessen Name bis in die Gegenwart nachhallt, herrschte im Zeichen der majestätischen Raubkatze. Und sie zeigt der Welt noch immer ihre Krallen: auf dem Wappen der Windsors.
Es ist nicht überliefert, ob Magusan an Unsterblichkeit dachte, als er seine Wahl traf. Wohl aber, dass er mit harter Hand regierte, unersättlich war in seiner Gier nach Macht und keine Konkurrenz duldete. Doch genau die hatte ihm das Schicksal frei Haus geliefert – in Gestalt seiner Schwester Carmandua. Die junge Keltenprinzessin war nicht nur außergewöhnlich schön, sie besaß auch alles, was ihrem rauen, kriegerischen, einzig an sich selbst interessierten Bruder fehlte: Klugheit. Feingefühl. Ein Herz für die Nöte der einfachen Leute. Geduld und Wissbegier.
Carmandua war anders als die Frauen ihrer Zeit. Es gab durchaus vereinzelt weibliche Druiden und Frauen in ähnlich hohen Ämtern. Insgesamt jedoch hatten die Männer das Sagen, und zwar absolut. Als Ehefrau, Mutter oder Tochter wurde frau in der keltischen Gesellschaft respektiert, gut behandelt, mit Geschenken bedacht. Das musste aber auch reichen. Nach Bildung streben? Also wirklich! Unabhängig und selbstständig sein? Ha, ha, ha! Den Bruder auf dem Königsthron ablösen?
Diese Frage war neu – und erschreckend, denn Magusans Berater zögerten mit der Antwort, wenn der Keltenfürst sie stellte. Carmandua war beliebt; ihre Popularität im Volk wuchs mit jedem Tag und jeder guten Tat. Auch bei
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