Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
bisherige provisorische Bezeichnung ihres Herrschaftsgebietes
Süd-Cornwall
aufzugeben. Es passte zu der Prinzessin, dem Reich einen Namen zu verleihen, der nach außen hin für Kraft und Mut stand, eigentlich aber nichts anderes meinte als duftende Schönheit und Liebe.
So wurde der Name der Rose zum offiziellen Landesnamen.
Lyonesse.
19 Der Preis für den König
Fahle Dämmerung lag über den Ruinen von Tintagel, als Nadja erwachte. Die junge Frau gähnte verhalten. Davids Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Der Elf schlief, das verrieten seine gleichmäßigen Atemzüge. Rechts neben ihr lehnte Cunomorus an der Mauer; zusammengesunken, die Hände über dem Bauch gefaltet. Er schnarchte.
Nadja fuhr sich über ihre Augenlider, um die Schwere abzustreifen und die Bilder der Nacht. Sie hatte Merkwürdiges erlebt, während sie schlief – einen Traum von unwirklicher Klarheit, so intensiv, dass begleitende Gerüche und Töne noch immer nachwirkten.
Die stillen, dunklen Ruinen hatten plötzlich angefangen, sich zu bewegen. Wie von Geisterhand wuchs die alte Burg wieder auf. Dächer schlossen sich, Fahnen kamen aus dem Gestein, flatterten in einem längst verwehten Wind, während hinter den Fenstern ein Licht nach dem anderen anging. Stimmen wurden hörbar, hinter den Zinnen tauchten Wachposten auf. Im Hof waren altertümlich gekleidete Menschen unterwegs. Eine unangenehme Spannung lag über Tintagel – die Leute schienen auf etwas zu warten.
Dann sah Nadja, dass aus der Ferne ein Fackelzug nahte: Ritter in Kettenhemden, auf schnaubenden Pferden und von Fußvolk flankiert. Sie kehrten wohl aus einem Kampf zurück, denn nicht einer von ihnen war unverletzt. Nasses Blut glänzte im Widerschein der tanzenden Lichter. Ein schrecklicher Anblick, nur noch übertroffen von dem, was in der Mitte des Zuges geschah. Dort trugen sechs Ritter eine Bahre. Jemand lag reglos darauf, zugedeckt mit der zerrissenen, blutverschmierten Flagge von Cornwall, und die Männer in seiner Nähe weinten.
Als der Zug die Vorburg erreichte und durch das mächtige, aufschwingende Tor in den Hof drang, erhob sich dort lautes Geschrei.
Gorlois! Es ist Gorlois!
, riefen die Menschen.
Der Herzog ist tot!
Nadja hörte eine verzweifelte Stimme fragen:
Aber wie sollte das möglich sein? Gorlois ist doch oben bei Igraine!
An dieser Stelle hatte Nadja gemerkt, dass alles ein Traum war, denn sie konnte – obwohl sie im Burghof stand – plötzlich das Schlafgemach der Herzogin sehen, und zwar von innen. Brennende Kerzen spendeten ein sanftes Licht, und Rosenduft erfüllte den Raum, er kam aus blütengefüllten Wasserschalen. Igraines Bett war zerwühlt. Nackt stand die schöne Frau daneben, eingehüllt in den Widerschein der Kerzen und noch durchwärmt von zärtlichem Liebesspiel. Ihr Körper war beneidenswert makellos; dichtes, glänzendes Haar floss in langen Kaskaden über den Rücken herunter. Igraine half dem Mann an ihrer Seite, seine Kleidung wieder anzulegen.
Sie nannte ihn Gorlois, und er sah auch so aus. Das wusste Nadja, ohne einen Blick auf den Toten im Burghof geworfen zu haben. Die Macht der Träume hatte ihr dieses Wissen vermittelt. Aber warum wirkte der lebende Gorlois so gehetzt? Warum hatte er es eilig, diese schöne Frau zu verlassen? So hoch oben hörten sie nichts vom Geschrei im Hof der Vorburg – was hatte den Mann also aufgescheucht? Nachtwind wehte durch ein Fenster herein und bauschte die Vorhänge auf. Als sie zurücksanken, sah Nadja etwas unter ihnen hervorlugen: ein Paar helle, spitz zulaufende Schuhe.
Im nächsten Moment war sie wieder im Burghof. Immer mehr Leute kamen herbeigelaufen, immer mehr Fackeln warfen gespenstische Schatten an die Mauern. Wehklagen und Geschrei vermischten sich mit dem Klirren abgelegter Schilde, Schwerter, Helme. Der Lärm und die Enge machten die Pferde nervös; sie schnaubten, warfen die Köpfe, und Hufschlag erklang, wenn sie im gepflasterten Hof auf der Stelle traten. Nadja wollte dem lauten Durcheinander entfliehen. Sie drehte sich um – und blickte auf helle, spitz zulaufende Schuhe.
Ihr Träger war in einen weiten Umhang gehüllt. Er hielt einen Wanderstab in der Hand, fast so hoch wie er selbst und mit einem Rubin am oberen Ende. Der Mann mochte um die vierzig sein, mit zeitlos wirkenden Zügen. Haare und Vollbart wechselten zwischen Fuchsbraun und Silbrig. Seine Augen waren von sehr hell strahlendem Blau, und das Wissen um Jahrhunderte lag in ihnen. Ihr Blick durchbohrte Nadjas
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