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Seidendrachen

Seidendrachen

Titel: Seidendrachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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er beginnen!
    Jarin war enttäuscht, dass der König seinen Freund fast ununterbrochen beschäftigte. Viel lieber hätte er etwas private Zeit mit ihm verbracht. Doch der Künstler stand ja unter seinem Schutz. Offiziell durfte niemand von ihrer persönlichen Zuneigung füreinander wissen. Es gab in diesem riesigen Schloss kein Versteck, das nicht von den neugierigen Augen der Höflinge oder der Dienerschaft beobachtet wurde. Ihm war innerlich zum Heulen zumute, aber in dieser Nacht hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihm.
    Eigentlich wollte er beim Zubettgehen nur eine der großen Kerzen in der Wandhalterung zu beiden Seiten des ausladenden Himmelbettes anzünden, als er bemerkte, dass diese Halterung sich nach unten neigte. Ein leises Knirschen im Raum ließ ihn herumfahren. Ein Teil der scheinbaren Wand seitlich von ihm hatte sich nach vorne bewegt und eine Öffnung freigegeben, durch die er mit gebücktem Haupt schreiten konnte. Er nahm eine der Kerzen und leuchtete hinein. Ein dunkler, endloser Gang erstreckte sich vor ihm, dessen Ende das schwache Licht der Flamme nicht erreichen konnte. Von jugendlicher Neugier gepackt, ging er immer weiter hinein. Die Luft roch muffig und nach Staub. Spinnweben hingen lose von der gewölbten Decke hinunter. Ab und zu wurden die glatten Mauern von einer Art Nische unterbrochen. Dann wieder folgten Abzweigungen, wo Jarin sich entscheiden musste, welchen Weg er einschlagen sollte. Woanders führten Stufen hinab.
    Er war klug genug, um an jeder Weggabelung mit einem Stein ein Zeichen an die Mauer einzuritzen, damit er den Rückweg wiederfinden würde. Jarin bemerkte schnell, dass diese Gänge sich durch das gesamte Schloss erstreckten. Er gelangte sogar durch sie in die Krypta der Schlosskapelle und noch immer war kein Ende abzusehen! Hinter der Krypta befand sich eine halbrunde Holztür.
    Dahinter ein kleiner Raum ähnlich einer Mönchskammer, die vollgestopft war mit alten verstaubten Büchern und Handschriften. Ein paar grob gezimmerte Holztruhen, die wohl die Bücher enthalten hatten, sowie ein einfacher Tisch und ein Stuhl waren die einzigen Möbelstücke darin. Schreibfedern und Tintenfässer lagen auf dem Tisch. Offenbar war hier gearbeitet worden. Vielleicht übersetzte hier ein Gelehrter biblische Texte oder erstellte Namenslisten gefallener Soldaten? Prior Clement hätte jedenfalls seine Freude daran gehabt.
    Jarin wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als ihm der Atem stockte. Hinter der offenen Holztür waren die Überreste eines menschlichen Skeletts zu erkennen. Die Fetzen einer Kutte ließen erkennen, dass es sich um einen Geistlichen gehandelt haben musste. Hier drin war jemand gestorben! Welche düsteren Geheimnisse barg der Palast des Königs noch? Mit einer Gänsehaut machte sich der junge Mann wieder auf den Rückweg. Die Kerze in seiner Hand war bereits zur Hälfte heruntergebrannt. Morgen früh würde er Akio von seiner Entdeckung berichten!
     
    *
     
    Am nächsten Morgen im Atelier sah Jarin, dass sein Freund bereits mit dem neuen Kimono begonnen hatte. Zunächst bemalte er immer den Stoff, der für die Rückseite bestimmt war. Jetzt entstanden hier zwei Drachen, ein schwarzer und ein gelber auf rotem Grund. Die Drachen waren ineinander so verschlungen, dass ihre schlangenförmigen Körper eine Herzform bildeten, in deren Mitte eine Sonne zu explodieren schien. Chinesische Schriftzeichen begleiteten die Szene zu beiden Seiten.
    „Die Drachen des Schicksals alles wieder in die richtige Bahn lenken werden“, erklärte ihm Akio, als er das Staunen in den blauen Augen seines Freundes sah. „Jeder Kimono besitzt Kräfte, jedes Zeichen hat eine Bedeutung. Es geben Zeichen für Schutz, für Glück, für Kraft, für alles“, fuhr er fort, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
    „Willst du damit sagen, dass diese Zeichen eine Art Zauberspruch bedeuten?“, fragte Jarin spöttisch.
    „Nur ein Schamane die Drachen um Hilfe bitten kann, damit sie legen ihre Magie in diese Zeichen.“
    Jarin lächelte. Akio schien nach seiner Meinung in einer Art Märchenwelt zu leben. Wie sonst hätte er als Europäer diese Worte deuten sollen?
    „Aha, und wie ruft man die Drachen?“, wollte er nun wissen. „Drachen reagieren auf Energie. Alles sein Energie, die Elemente, dein Atem, deine Gefühle, alles. Drachen leben in der Geisterwelt. Früher sie gelebt haben auch in unserer Welt.“
    Jarin konnte sich darunter schwerlich etwas vorstellen. Zu fremdartig war ihm diese

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