Seidendrachen
die Drachen auf dem unfertigen Kimono im Atelier.
Und wieder war es Akios sanftes und doch bestimmendes Vorgehen, das Jarin ein ganz neues Gefühl für seine eigenen Bedürfnisse gab. Alles zwischen ihnen war so selbstverständlich, als würde es keine „andere“ Art der Liebe zwischen zwei Menschen geben. Umgeben von der düsteren Sinnlichkeit der Schatten an den Wänden, die ihr heftiges Atmen wie ein Echo zurückzuwerfen schienen, verloren sie sich beide in einem Strudel aus Lust und Verlangen. Ihre verbotene Liebe fügte sich in die Geheimnisse des Todes ein, der sie in der vergessenen Krypta überall umgab, und machte ihre Gefühle füreinander zu einem Mysterium. Einem kostbaren Schatz, den ihre Herzen hüteten.
Erst nachdem sie dem Rausch ihres entfesselten Begehrens nachgegeben hatten, fielen sie erschöpft und atemlos auf die provisorische Decke. Nur langsam ließ dieses Hochgefühl in Jarin nach. Immer noch ging sein Atem viel zu schnell. Er war glücklich. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben war er unendlich glücklich. Akio lag dicht bei ihm, den Kopf auf seiner Brust. Sie hielten einander fest umschlungen. Jarin streichelte Akios Rücken, während er in die nur vom müden Kerzenschein durchbrochene Dunkelheit blickte.
Die Decke dort oben schien irgendwo im Universum zu münden. Wenn doch nur die Zeit stehen bleiben könnte! Jetzt - in diesem Augenblick. Gleichzeitig war da die Vorfreude auf weitere Treffen und neue Ekstasen. Hier unten würde von nun an ihre Liebe blühen wie eine Rose, die niemals das Tageslicht erblicken durfte.
***
Nicolas de Vervier brauchte nicht lange, um sich in dem kleinen Städtchen Sedan nach einer kräuterkundigen Frau zu erkundigen. Man wies ihm den Weg in einen kleinen Wald, in der eine einsame Frau in einer verlassenen Köhlerhütte leben sollte. Die meisten Hilfesuchenden kamen erst nach Einbruch der Dämmerung zu ihr, daher überraschte es sie, dass ein Reiter seinen Weg am helllichten Tage zu der kleinen Kate fand. Ein paar Hühner und zwei Gänse liefen frei auf einer kleinen Lichtung davor herum, auf der Suche nach Futter. Oft genug bezahlte man Madame Thérese – wie sie allgemein nur genannt wurde – in Naturalien für ihre Dienste. Thérese war das genug. Sie hatte alles, was sie brauchte. Ein kristallklarer Bach hinter der Hütte lieferte stets frisches Wasser und auch Forellen. In dem provisorischen Verschlag neben der Kate grunzten zwei gescheckte Ferkel. Ihr früheres Leben lag hinter einem Vorhang der Erinnerung wie ein vor langer Zeit aufgeführtes Theaterstück.
Aber ein Blick in das Antlitz des jungen Mannes, der da vor ihr vom Pferd stieg, riss diesen Vorhang abrupt zur Seite. Thérese de Vervier spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Das da war ihr Sohn! Nicolas umarmte die Mutter schweigend. Dann nahm Thérese sein Gesicht in die Hände.
„Mein Junge, mein kleiner Nicolas. Wie sehr habe ich gehofft, dich eines Tages wiederzusehen. Wie geht es deinem Vater?“
„Er ist tot, Maman . Er kann dir nichts mehr anhaben. Tante Marie und unser alter Verwalter sorgen jetzt für das Chateau. Wenn du willst, kannst du jederzeit zurückkommen. Ich selbst möchte wieder zurück nach Paris. Ich will die Vergangenheit endgültig hinter mir lassen. Es tut mir nur so unendlich leid, dass ich mich nicht früher auf die Suche nach dir gemacht habe“, sprudelte Nicolas hervor. Seine Mutter seufzte und tätschelte seine rechte Wange.
„Gott sei Gérards Seele gnädig. Komm erst einmal mit rein, Junge. Ich mache uns einen schönen heißen Tee und du erzählst mir, wie es dir bisher ergangen ist. Ich will alles von dir wissen, einfach alles!“ Sie strahlte bei diesen Worten über das ganze Gesicht, welches vom harten Leben in der Natur gezeichnet war. Die einst dunkelbraunen, langen Haare waren grau geworden, die Stirn und Wangen runzelig, doch ihre Augen leuchteten immer noch von innen heraus wie die eines jungen Mädchens.
Die Stunden vergingen an der Feuerstelle mit alten und neuen Geschichten. Sie aßen gemeinsam ein Stück Brot und Käse. Sogar eine Flasche Rotwein zauberte seine Mutter aus einer der Kisten, in denen sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Kein edles Kristall, nur Zinnbecher waren für das Getränk bestimmt. Kein Vergleich zu ihrem früheren Leben als Landadelige im Chateau de Vervier .
„Willst du wirklich so weiter leben, Maman ?“, fragte er besorgt und mit einem schlechten Gewissen. „Eigentlich bist du doch die
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