Seidene Küsse
Handgelenke, die Antonio mit dem Seidenschal an die Balustrade des Dachlokals gebunden hat. Patrizia spürte noch das sanfte Ziehen, als sie sich so leidenschaftlich geräkelt hatte, dass sich der Schal straff gespannt in das zarte Fleisch um ihre Gelenke gegraben hatte.
Während sie die ganze Stadt hatte überblicken können, während sie und Antonio sich gleichklingend im Takt ihrer lustvollen Rumba gewiegt hatten, während es allmählich immer dunkler geworden war, was das Sternenmeer im endlos weiten Firmament über ihnen zum Funkeln gebracht hatte, während blaues Fernseher-Licht in den Fenstern geflackert hatte, Fenster geschlossen worden, Lichter an- und ausgegangen und Zivilisationsgeräusche gedämpft zu ihnen hinaufgedrungen waren, war Patrizia mit Antonio durch die Stratosphäre geflogen.
Erst als das Wasser deutlich spürbar abkühlte und der Boiler auch keine Reserven mehr ausspuckte, sah sie sich imstande, die Dusche abzustellen.
Jetzt nahm Patrizia auch das Klingeln des Telefons wahr.
Den Parkettboden mit ihren Zehenabdrücken stempelnd, tapste sie tropfend durch die Wohnung, bis sie den Apparat geortet hatte. Sie hob den Hörer von der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank auf.
»Ja?«
»Kind! Seit gestern versuche ich dich zu erreichen! Was ist denn los?«, schallte es ihr aufgebracht und entschieden zu laut ins Ohr.
»Nichts, Mama.«
»Was heißt nichts?«, tönte es hysterischer.
»Ich war einfach draußen. Das Wetter genießen.« »Deine Nerven möcht ich haben.«
Patrizia sah Mutters entrüstetes Kopfschütteln förmlich vor sich.
»Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen, er hat noch keine Gelöbnisse von euch, der Cateringservice kann kein Tiramisu machen, zu gefährlich mit den Eiern, du weißt schon, wegen der Hitze, du musst ein anderes Dessert aussuchen, wie wär’s mit Bayerischer Creme, die wird wenigstens gekocht, und das Hotel will jetzt endlich wissen, wie viele Gäste tatsächlich kommen, sonst geben sie die Zimmer weg …«, ratterte es wie ein Maschinengewehrfeuer auf die deckungslose Patrizia ein.
»Lass nur, Mama. Ich kümmere mich darum«, sagte sie matt.
Und auf einmal war der ganze Zauber verflogen. Als wären die Worte ihrer Mutter Beschwörungsformeln eines Schamanen, der den Auftrag hat, den Geist Antonios auszutreiben.
Sie konnte förmlich spüren, wie Antonios Andenken durch jede einzelne ihrer Poren entschwand, sich wie ein vorbeiflatternder Schmetterling im flirrenden Äther des heißen Sommertages verflüchtigte. Und Patrizia wurde schmerzlich klar, dass sie Anto -nios Einladung zum Mittagessen niemals folgen würde …
Das stetig anschweltende Schnattern und Quaken einer Entenschar holte sie zurück ins Hier und Jetzt. Beim Austausch von längst fälligen Informationen, verlogenen Höflichkeiten, aufrichtigen Komplimenten und den unvermeidlichen Diskus-sionen um die Sitzordnung, dieses begleitet von ohrenbetäu-bendem Stühlerücken, standen ihre Familienmitglieder den Südländern – die Lautstärke betreffend – in nichts nach.
Ein Kellner wurde um einen Gabentisch gebeten. Hilflos, aber beflissen eilte er von dannen. Anstatt mit dem Beistelltisch erschien er in Begleitung eines anderen Mannes, der sich der Gruppe mit ausgebreiteten Armen und jovialem Lächeln näherte.
»Wo ist das Geburtstagskind?«, übertönte er die Menge, was gar nicht so einfach war, mit einem Akzent, der ihn sofort als Italiener verriet.
»Hier«, riefen einige, auf das hübscheste Mädchen am Tisch zeigend, das in ein Gespräch mit ihrem Vater vertieft war, der neben ihr saß. Patrizia stupste ihrem Kind von hinten auf die Schulter, um sie auf den netten Wirt des Restaurants aufmerksam zu machen. Dann erst würdigte auch sie ihn eines Blickes. Und stutzte.
Zu spät.
So ziemlich alle Augen der Geburtstagsgesellschaft waren auf den Mann gerichtet. Wie durch einen Gazeschleier sah Pa-trizia, wie ihre Tochter aufstand und sich – noch strahlend -umdrehte. Sie sah, wie sich ihr Mann Olaf ebenfalls erhob und erwartungsvoll diesem Italiener zuwandte, einem schwarzgrau melierten, blauäugigen Al ain-Delon-Typ mit einer coolen, sehr männlichen Ausstrahlung.
Und als würde sich in einem Theater der Vorhang heben und den Beginn der Vorstellung ankündigen, verstummte das Stimmengewirr nach und nach, bis nur noch
Una favola destate
den ironischen
Soundtrack
zu dem Schauspiel lieferte, das nun alle in ihren Bann zog.
Wie gelähmt stand Patrizia da und ließ das Unvermeidliche auf
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