Seidene Küsse
sich zukommen. Sie fühlte sich so fehl am Platz wie ein Hausmeister, der beim Hamlet-Monolog versehentlich auf die Bühne geraten war, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sich die Erde auftun und sie verschlingen möge. Doch sie wünschte vergeblich.
»Patrizia!«, hörte sie aus weiter Ferne, jede Silbe betont, als sei sie ein kostbares Schmuckstück.
»Willkommen in meinem Ristorante.«
»Antonio?«, flüsterte Patrizia, von einer Woge ungeahnt zärtlicher Freude durchströmt.
Alle Augen richteten sich auf sie, da war sie auch schon in den Armen des Wirtes verschwunden, eingehüllt in seinen unvergleichlichen, so lange verdrängten Duft.
»Wie schön du bist«, sagte er und strich ihr zärtlich übers Haar.
»Antonio«, murmelte Patrizia. »Mia bella Patrizia.«
Nicht nur für sie klang das höchst vertraut, darum trat Olaf instinktiv einen Schritt auf sie zu.
»Antonio.« Als werde er in der Luft verpuffen, wenn sie aufhörte, seinen Namen zu sagen.
»Mama?«
Erst jetzt bemerkte Patrizia, dass ihre Tochter die ganze Zeit über staunend neben ihnen gestanden hatte. Schwungvoll löste sich Antonio von ihr, wandte sich freudig dem Mädchen zu, nahm ihre Hand und schüttelte sie energisch.
»Auguri, carina. Du bist also heute volljährig geworden? Come ti chiami? Wie heißt du?«
»Antonia«, antwortete das Mädchen, fast fragend.
Selbst die Musik zog jetzt das Schweigen vor.
Alle sahen, wie Antonio den Anblick dieses schmalen Geschöpfes mit den charismatischen blauen Augen und der wilden schwarzen Lockenmähne in sich aufnahm und wie sich sein Gesichtsausdruck ganz allmählich von Überschwang in Fassungslosigkeit wandelte. Fassungslosigkeit, die sich auch auf den Gesichtern der Geburtstagsgesellschaft breitmachte.
Kaum ausgesprochen, fügte sich auch für Olaf alles fein ordentlich zusammen wie ein Tetris-Puz zle. Sämtliche Lücken in seinem eben noch leeren Hirn füllten sich in rasender Ge-schwindigkeit mit bunten Steinchen. Plop-plop-plop. Ein Stückchen ans andere. Zu einem großen, ganzen Bild.
Antonio. Antonia. Wie hatte Patrizia um diesen Namen gekämpft. Vor achtzehn Jahren. Olaf sah in Patrizias Gesicht und verstand nun, warum. Nur zu gut.
Wie eine stürmische Woge erhob sich das Stimmengewirr an der Festtafel aufs Neue …
Lailas Spiel
Der erste Januar – Lailas persönlicher D-Day!
Sie hatte sich sorgfältig vorbereitet, das Szenario schon genau vor Augen, und war wild entschlossen, Tom eine ziemliche Überraschung zu bereiten.
Als sie ihm vor sechs Wochen frühmorgens beim Kofferpacken zugesehen und ihn für eine kurze Geschäftsreise mit einem leidenschaftslosen, unsicheren Kuss verabschiedet hatte, hatte Laila einen flanellenen Männer-Pyjama, grob gestrickte Socken und einen Morgenrock getragen, die dunklen Locken wie üblich ein
Bedhead.
Nun stand sie in lasziver Pose in der geöffneten Wohnungstür, zehn Unglückskilo leichter und von Kopf bis Fuß in ihrer Lieblingsfarbe Rot. Ein elastisches Kleid mit tiefem Ausschnitt zeichnete detailliert ihre 90-60-90-Kurven nach. Die neuen roten Spitzendessous und halterlosen Strümpfe, ebenfalls mit breitem Spitzenrand, die sie darunter trug, gaben Laila ein erhebendes Gefühl. Ihre wohl konturierten Tänzerinnen-Beine – äußerlich war alles an Laila kurvig, griffig und stand in verblüffendem Gegensatz zu ihrem wenig greifbaren Charakter voller Ecken und Kanten – steckten in atemberaubenden, um die Fesseln mit Lederbändern geschnürten roten Wildle-der-High-Heels.
Schon immer hatte Laila Toms Schritt auf der Treppe identifiziert – zwei Stufen auf einmal, aber dennoch schwer und langsam.
Besonders eilig hat er es ja nie gehabt, zu mir zu kommen, resümierte sie nüchtern.
Im letzten Jahr hatte er jede einzelne Geschäftsreise ausgedehnt, war nie zum genannten Datum zurückgekehrt. Natürlich immer aus einem anderen Grund. Einmal wurde er mit einem Auftrag nicht rechtzeitig fertig, ein andermal hatte er zufällig einen wichtigen Geschäftspartner getroffen, mit dem er unbedingt noch Verhandlungen führen musste. Oder er war von extrem einflussreichen Leuten zu einer unverzichtbaren Festivität eingeladen worden, die erst in drei Tagen stattfand. Zwischendurch nach Hause zu kommen, lohnte sich da doch nicht.
Laila gehörte zu der seltenen Spezies Frau, die für alles Plausible und Notwendige Verständnis aufbringen konnte. Ein verdammter Charakterfehler, wie sie im letzten Monat festgestellt hatte.
Einige Male
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