Seidene Küsse
er sie.
Vorsichtig zog Iris die Zimmertür hinter sich zu. Sie verzichtete darauf, im langen schmalen Hotelflur das Licht einzuschalten. Die Dunkelheit gab ihr nun Schutz. Iris würde nie wieder Angst vor der Dunkelheit haben.
Ihre zitternden Knie erlaubten keine Hast. Bedächtig schritt Iris die Treppe hinab.
»Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. Besser wird es nie werden«, murmelte sie.
Phantom im Nebel
Ihre Eltern hatten sie Francesca getauft, aber nicht etwa, weil sie ita lie ni scher Abstammung waren. Jedes Jahr im Som mer waren sie nach Italien gefahren, und sie hatten ihrer Tochter den Namen Francesca als Huldigung an ein heiß geliebtes Land gegeben.
Ihre Eltern lebten nicht mehr, und jeden November wurde es ihr so schmerzlich bewusst, dass ihre Augen immer noch feucht wurden. Gestorben waren sie an einem warmen Frühlingstag, aber der Totensonntag erinnerte sie stark daran. Und wie fast jedes Jahr lag Nebel über der Stadt und hüllte die Häuser darin ein. Gespenstisch sah es aus, wenn der Nebel sich um die Beine wickelte und alles hinter einem Schleier verbarg. Ein Monat, in dem die Selbstmordrate stieg und der bei wetterempfindlichen Menschen Schwermut auslöste. Kein Wunder, die Kälte drang durch jede Pore und ließ einen bis in die Knochen und tief hinein in die Seele frieren.
Francesca fror nicht, denn in ihrer Wohnung war es mollig warm. Nie würde sie Menschen verstehen können, die ihre Wohnungen nicht heizten, denen es nichts ausmachte, in den eigenen vier Wänden mit einem dicken Winterpulli herumzulaufen. Nein, für sie war das nichts, sie brauchte Wärme, sie hungerte gera dezu danach. Manch mal verglich sie sich mit einer Schlange; diese Reptilien wurden auch erst aktiv, wenn die Sonne auf ihren Körper schien. Warm und behaglich, so hatte es Francesca gern.
Sie besaß eine Eigentumswohnung mit vier Zimmern, die sie sich selbst erarbeitet hatte. In einer Zeit, in der geschickte Anlagen noch möglich gewesen waren, hatte sie umsichtig und Ge winn bringend inves tiert. Ihr ers tes Ei gentum. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen, hätten sie es noch erleben dürfen. Aber stolz waren sie sowieso auf ihre Tochter gewesen, die sie nach einer stürmischen Faschingsnacht gezeugt hatt en und die ein Herzenswunsch gewesen war. Sozusagen ein Kind der Liebe, und Liebe hatte sie von ihren Eltern wahrhaftig genug bekommen.
Warum sie mit ihren fünfunddreißig noch alleine war, konnte niemand verstehen. Ihre Haare waren so schwarz wie eine sternlose Nacht, und die wilde Lockenpracht fiel wie eine Kaskade auf ihren Rücken.
Franc esca stand gedan kenver loren an ih rem Fenster in der anheimelnden Küche und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. Eigentlich wäre sie manchmal gern eines dieser filigranen Geschöpfe gewesen, aber sie war von Natur aus üppig gebaut. Inzwischen wusste sie die Vorteile ihrer Figur durchaus zu schät zen.
Manch einer hatte sie mit Marilyn Monroe verglichen. Großer Busen, Wespentaille, einen Hintern, der verführte, und Beine, die einem Mann das Wasser in die Augen trieben. Alles an den richtigen Stellen, verteilt auf eins sechsundsechzig. Der Duft des Glühweins, den sie vor einiger Zeit getrunken hatte, durchzog immer noch die Küche. Es roch nach Rotwein, Zimt und Zitrus früchten.
Francesca hatte nichts gegen Bindungen, nur war ihr der Richtige bis her nicht über den Weg gelau fen. Ihre Idealvorstellung war geprägt von der Ehe ihrer Eltern, die bis zuletzt herumgeturtelt hatten wie frisch Verliebte. Das war ihr Standard, und darunter kam für sie nichts in Frage. Warum sollte sie sich mit weniger zufrieden geben, als es ihre Eltern ihr vorgelebt hatten?
Und wenn sie ehrlich war, verglich sie sowieso jeden Mann mit ihrem Vater, der gut hatte zuhören können und ihr immer gesagt hatte: »Du kannst alles werden und schaffen, wenn du es nur willst.« Ihr Vater mit dem Seeräuber-Gesicht und einem Herzen, so zart und weich wie Daunenfedern. Ein Mann, der noch wusste, wie man eine Frau behandelte, und der die Achtung vor den Menschen großgeschrieben hatte. Respekt war einer seiner Grundsätze gewesen, Respekt vor dem Menschen und auch vor sich selbst. Schließlich konnte man anderen nur mit Respekt begegnen, wenn man vor sich selbst Respekt hatte. »Also lebe jeden Tag so, dass du stolz auf dich sein kannst«, hatte er immer wieder gesagt.
Nicht, dass sie auf Sex verzichtet hätte, solange sie noch keinen Mann gefunden hatte, o nein. Sich ab und zu an
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