Seidene Küsse
nicht der Fall gewesen war. Denn er war ein Mann, den man nicht beim ersten Mal ins Bett bekommen wollte. Er hatte verdient, dass man sich öfter mit ihm traf, bevor man es ihm zugestand. Er war humorvoll und voller Respekt für seine Mitmenschen. Den Kellner hatte er immer höflich behandelt, und sein Trinkgeld war weder knauserig noch zu überschwänglich gewesen. Auch das hatte ihr gefallen, denn Männer, die zu wenig Trinkgeld gaben, waren generell geizig, auch den Frauen gegenüber, und wer wollte schon einen Geizkragen als Freund! Und hätte er zu viel gegeben, hätte ihr das gesagt, dass er ein gnadenloser Angeber wäre. Aber das war längst nicht alles, sie hatte sich auch etwas in ihn verliebt. In Oliver mit seinem auf den ersten Blick rauen Äußeren und der freundlichen Art. Heute war ihr eingefallen, an wen er sie erinnerte. An ihren Vater. Selbst die Angewohnheit, am Knöchel seines Zeigefingers zu saugen, wenn er über eine schwierige Frage nachdachte, war wie bei ihrem Vater. Zwei Menschen, die die gleichen Eigenarten hatten, ohne sich jemals kennen gel ernt zu haben, das war kaum vorstellbar. Aber so war es.
»Kommst du noch mit zu mir hoch?«, wollte Oliver wissen.
»Wenn du mir verrätst, wie weit wir zu dir gehen müssen? Die Schuhe bringen mich um.«
»Übrigens, schöne Schuhe.« Er lächelte. »Nicht weit, ich versprech’s.«
»Nur, wenn ich noch einen Cappuccino bekomme.« Er lachte. »Auch das.« »Na gut.«
Die letzten Nächte waren kristallklar gewesen, so auch jetzt.
»Wo führst du mich eigentlich hin?« »Wart’s ab.«
Francesca sah zu ihm hoch, und sie war sicher, er würde es ihr nicht sagen, selbst wenn sie hundert Mal gefragt hätte.
Er hatte mit ihr die Straßenseite gewechselt und ging zur Haustür, die ihrer gegenüber lag.
»Du wohnst hier?« Deshalb dieses Staatsgeheimnis! Ob er wohl Angst hatte, dass sie ihm auflauern würde? Oder was sonst? In welchem Stockwerk er wohl wohnte? Der Aufzug fuhr in den viert en Stock. Viell eicht wohnte er neben dem Phantom? Auf jeden Fall musste sie den Raum zur Straße hin sehen, so viel war klar. Ihr Magen flatterte kurz. Er schloss die Tür auf, machte Licht, dann half er ihr aus dem Mantel. Wenn bei ihr die Küche zur Straße hin lag, dann war diese Wohnung vielleicht genauso geschnitten. Wie gut, dass sie ihn nach dem Capuccino gefragt hatte.
»Komm herein.«
Alle Türen standen leicht offen, außer der zum Badezimmer; er öffnete die Tür und zeigte es ihr. Nur wenige Sachen standen herum, nicht wie bei ihr, wo ein Sammelsurium von Cremes, Tuben, Shampoos und Kosmetik auf den Ablagen zu finden war. In jedes Zimmer, an dem sie vorbeigingen, warf sie einen Blick, um herauszufinden, ob es zur Straße hin oder sogar gegenüber von ihrem Fenster lag. Alles war maskulin eingerichtet. Kein übertriebener Firlefanz, nichts, was vom Wesentlichen ablenkte, aber trotzdem nicht öde oder kalt.
»Das ist also deine Küche. Du kochst selbst?« Inzwischen bewegte sie sich Richtung Fenster und warf einen Blick auf das Haus gegenüber.
»Ja.« Er schaltete die Cappuccino-Maschine an, stellte zwei Tassen darunter. Francesca drehte sich um und lehnte sich gegenüber von ihm an den Küchentisch.
»Wohnst du schon lange hier?« Die Maschine zischte und grummelte vor sich hin. Francesca hörte diese Geräusche gern, irgendwie vermittelten sie ihr ein Gefühl von Wärme.
»Noch nicht lange.«
»Würdest du mich für unverschämt halten, wenn ich wissen möchte, wie lange?«
»Seit ersten November.« Es war sehr schwer, etwas Persönliches aus ihm herauszubekommen. Aber mit viel Nachbohren hatte sie zumindest erfahren, dass er seit einem Jahr geschieden war, keine Kinder hatte und aus Wiesbaden hierher gezogen war.
Er reichte ihr die Tasse. »Zucker?«
»Nein danke.« Schweigend sahen sie sich an, ehe sie tranken.
Er stellte seine Tasse hinter sich auf die Ablagefläche, kam Schritt für Schritt auf sie zu. Dann nahm er ihre Tasse und stellte sie hinter ihr auf dem Tisch ab. Er sah nur kurz weg, um nicht daneben zu treffen. In ihrem Mund sammelte sich Wasser, sie schluckte. Gleich würde etwas geschehen. Sie war ganz sicher. Seine Augen waren in ihren versunken, ihre in seinen.
Sein Grau mit ihren bernsteinbraunen Augen, durch ein unsichtbares Band verknüpft. Eine Uhr tickte laut, ein Auto fuhr langsam vorbei, die Cappuccino-Maschine zischte. Seine Hand ergriff ihre, beide sahen auf die Hände, die sich ineinander verschlangen. Sein warmer
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