Seidene Küsse
ihr stattdessen alte Pin-Up-Postkarten, die sie mal auf einer USA-Reise gekauft und jetzt aus einem Schuhkarton voller Grußkarten wieder herausgekramt hatte. Extra für das Casting hatte sie sich ein aberwitzig teures, schwarzgrün gestreiftes Korsett mit Strapshaltern geleistet, das ihre üppigen Kurven ebenso vorteilhaft unterstrich wie die der Fünfziger-Jahre-Schönheiten. Behutsam rückte Alice die Naht ihrer schwarzen Strümpfe gerade und hakte sie an den Strapsen ein. Ein Slip war nicht nötig. Sie wollte Luft um ihr rotes Herzstück wehen lassen, sich allzeit bereit fühlen. Das Korsett, das ihre Körpermitte so ansprechend verhüllte, gab ihren großen, schweren Brüsten zwar eine stabile Stütze, ließ sie aber vollkommen unbedeckt. So reizte der Wildledermantel, den Alice darüberzog, bei jeder Bewegung ihre höchst feinfühligen Brustwarzen, die darauf mit äußerster Prallheit und Aufrichtigkeit reagierten. Noch ein prüfender Blick in den Spiegel: perfekt. Sie atmete hörbar aus. Sah auf die Uhr. Ist mir schlecht …
Es klingelte.
Oh Gott, der Taxifahrer.
Ein kalter Schweiß aus bruch.
Ich stelle mich einfach tot.
Aus blankem Automatismus drückte sie dennoch den Knopf der Sprechanlage, sagte brav, sie komme gleich, und kippte sich noch schnell ein ganzes Glas Prosecco rein, bevor sie zum Aufzug stöckelte. Prompt stand ihr Nachbar, Herr Krause, im Lift.
Natürlich, dachte sie entnervt. Bei meinem Glück … … …
Sie grüßte flüchtig mit gesenktem Kopf, doch sein erstaunter Blick auf ihre »Fick mich«-Stiefel entging ihr trotzdem nicht. Dass der biedere Taxifahrer sogar seinen Rückspiegel verstellte, um sie besser betrachten zu können, während er Volksmusikweisen aus dem Radio mitsang, ging dann aber in Alices Tagträumen unter. Sie, umringt von erigierten Penissen …
Wie sollte es anders sein: Das Casting fand in einer miefigen Sechziger-Jahre-Wohnsiedlung in einem der gesichtslosen Randgebiete statt. Unter dem Sammelsurium von Türschildern in allen Materialien und Farben fand Alice das unpassend protzige Messingschild der POPO GmbH. Verheißungsvoll … Gerade drückte sie den Klingelknopf, da riss ein kleiner Junge die Tür auf und stürmte an ihr vorbei. Ihm folgte seine Mutter, Alice von der Sohle bis zum Scheitel verächtlich musternd. Im Treppenhaus roch es nach Blumenkohl und Tütensoße. Ein Tag voller Prüfungen. Doch ein Schritt in das großzügige Büro der Produktionsgesellschaft, und sie war in einer anderen Welt. Alice im Pornoland. Die Gediegenheit eines FünfSterne-Hotels – Perserteppiche auf hochglanzpoliertem Granitboden, edle Teakholzmöbel, viel Messing und dunkelroter Samt – entsprach zwar nicht ihrem Geschmack, wirkte aber sofort beruhigend.
Alice hatte einen Mann erwartet, doch eine ausgesprochen attraktive und gepflegte Dame um die Fünfzig stellte sich ihr als Produzentin Lisa Love vor.
Schönes Pseudonym, dachte Alice und bereute in dem Augenblick, da sie ihren eigenen Namen aussprach, dass sie sich gar keine Gedanken über einen Künstlernamen gemachthatte. Der Mann, der lässig hinter einem riesigen TeakholzSchreibtisch saß, war der Regisseur Peter Pollack. Auch ein Deckname?, rätselte Alice, als er ihr freundlich lächelnd einen Platz anbot. Nie hätte sie sich jemanden aus dem horizontalen Gewerbe so harmlos, so alterslos, so unscheinbar vorgestellt. Keine Spur von Sex. Oder gar von einem Zuhälter, was sie sich ehrlich gesagt ausgemalt hatte. In einem Blaumann hätte er, der wahrscheinlich Peter Müller oder Meyer hieß, ebenso der Automechaniker ihres Vertrauens sein können. Doch die im Regal hinter ihm präsentierten Videokassetten ließen keine Zweifel aufkommen: »Schneeflittchen«, »Dorn im Höschen«, »Schwanz im Glück« und dergleichen Poetisches mehr.
Höflich tauschten sie die üblichen Einführungsfloskeln aus, bis der Regisseur sagte: »Dann lassen Sie mal sehen, was Sie zu bieten haben« und damit bei Alice ein Buschfeuer auslöste, das an mehreren Stellen ihres Körpers gleichzeitig lodernde Brandherde entwickelte. Während ihre Schläfen einen Trommelwirbel veranstalteten, wurde ihr klar, dass es für einen stilvollen Abgang eindeutig zu spät war.
Nun gut. Einmal tief durchatmen. Dann mal los.
Langsam – um sich noch einen Moment sammeln zu können – öffnete Alice den Gürtel ihres langen Ledertrenchcoats, und wie in Zeitlupe setzte sie den linken Stiefel auf den Schreibtisch auf.
Was grinst der so?, ärgerte sich
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