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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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schlank und spitz würden. Die Schwurschwestern von Älterer Schwester kamen mit kleinen Geschenken, die ihnen in der Zeit
ihres Füßebindens geholfen hatten. »Beiß in die Spitze meines Kalligraphiepinsels. Die Spitze ist dünn und zart. So werden auch deine Füße dünn und zart.« Oder: »Iss diese Wasserkastanien. Das lehrt dein Fleisch kleinere Maßstäbe.«
    Das Frauengemach wurde zu einem Raum der Disziplin. Statt unsere üblichen Pflichten zu verrichten, gingen wir im Zimmer hin und her. Mama und Tante verordneten jeden Tag mehr Runden. Jeden Tag wurde Großmutter gebeten zu helfen. Wenn sie müde wurde, ruhte sie sich auf einem der Betten aus und dirigierte uns von dort aus. Bei zunehmender Kälte deckte sie sich mit zusätzlichen Decken zu. Als die Tage kürzer und dunkler wurden, wurden auch ihre Worte kürzer und dunkler, bis sie kaum noch etwas sagte, sondern Dritte Schwester nur noch anschaute und sie mit den Augen dazu brachte, weiter ihre Runden zu gehen.
    Für uns wurden die Schmerzen nicht weniger. Wie auch? Aber wir lernten die allerwichtigste Lektion für alle Frauen – dass wir zu unserem eigenen Wohl gehorchen müssen. Selbst in diesen frühen Wochen begann sich abzuzeichnen, wie wir drei einmal als Frauen sein würden. Schöner Mond würde in allen Lebenslagen stoisch und schön sein. Dritte Schwester würde eine nörgelnde Ehefrau werden, verbittert über ihr Schicksal, undankbar für die Geschenke, die sie bekam. Und was mich betraf – die so genannte »Besondere« -, ich akzeptierte mein Schicksal ohne Widerrede.
    Als ich eines Tages wieder einmal durch das Zimmer ging, hörte ich etwas knacken. Eine meiner Zehen war gebrochen. Ich dachte, das Geräusch wäre nur innerhalb meines Körpers wahrzunehmen, aber es war doch so scharf, dass es jeder im Frauengemach hörte. Meine Mutter richtete den Blick auf mich. »Beweg dich! Endlich ein Fortschritt!« Beim Gehen zitterte mein ganzer Körper. Als die Nacht hereinbrach, waren die acht Zehen, die brechen sollten, gebrochen, aber ich musste
immer noch weiterlaufen. Ich spürte meine gebrochenen Zehen unter dem Gewicht jedes meiner Schritte, denn sie lagen lose in meinen Schuhen. Dort, wo einmal ein Gelenk gewesen war, war nun eine gallertartige, unendliche Folter. Das eiskalte Wetter betäubte nicht im Mindesten die grässlichen Schmerzen, die durch meinen ganzen Körper rasten. Dennoch war ich Mama noch nicht fügsam genug. An diesem Abend befahl sie Älterem Bruder, ein Schilfrohr vom Flussufer mitzubringen. Die nächsten zwei Tage schlug sie mich damit von hinten auf die Beine, damit ich weiterlief. An dem Tag, an dem meine Bandagen erneuert wurden, badete ich meine Füße wie gewöhnlich, doch diesmal war die Massage, mit der die Knochen neu eingerichtet werden sollten, jenseits von allem, was ich bisher erlebt hatte. Mama zog meine losen Knochen mit den Fingern nach hinten und drückte sie mir an die Fußsohlen. Niemals sonst habe ich Mamas Mutterliebe so deutlich gesehen.
    »Eine echte Dame lässt nichts Hässliches in ihr Leben«, wiederholte sie immer wieder und hämmerte mir so die Worte ein. »Nur durch Schmerzen erlangst du Schönheit. Nur durch Leiden findest du Frieden. Ich wickle, ich binde, aber du wirst die Belohnung bekommen.«
    Die Zehen von Schöner Mond brachen ein paar Tage später, aber die Knochen von Dritter Schwester weigerten sich. Mama schickte Älteren Bruder ein weiteres Mal aus. Diesmal sollte er kleine Steine suchen, die Dritter Schwester an die Zehen gewickelt werden sollten, damit mehr Druck entstand. Ich habe ja schon gesagt, dass sie widerspenstig war, aber nun brüllte sie sogar noch lauter, wenn das überhaupt möglich war. Schöner Mond und ich dachten, sie reagierte so, weil sie mehr Aufmerksamkeit wollte. Immerhin widmete Mama ihre Bemühungen beinahe ausschließlich mir. Aber an den Tagen, an denen uns die Bandagen abgenommen wurden, konnten wir die Unterschiede zwischen unseren Füßen und denen von Dritter Schwester
genau erkennen. Schön, auch unsere Bandagen waren durchtränkt von Blut und Eiter, das war ganz normal, aber bei Dritter Schwester hatten die Flüssigkeiten, die ihr Körper absonderte, einen neuen, anderen Geruch angenommen. Und während bei Schöner Mond und mir die Haut verblasst war wie bei einer Leiche, leuchtete die Haut von Dritter Schwester rosa wie eine Blume.
    Ehrenwerte Frau Wang stattete uns einen weiteren Besuch ab. Sie begutachtete die Arbeit, die meine Mutter geleistet

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