Seidenfächer
Mucks. Sie streuten ihr Alaun auf die Haut und banden die Füße neu ein. Am nächsten Tag schneite es immer noch, und ihr ging es schlechter. Obwohl wir nicht reich waren, ging Baba in den Sturm hinaus und holte den Dorfarzt. Er sah Dritte Schwester nur an und schüttelte den Kopf. Damals sah ich zum ersten Mal diese Geste. Sie bedeutet, dass wir nicht verhindern können, dass die Seele eines geliebten Menschen in die Welt der Geister hinübergeht. Man kann dagegen ankämpfen, aber sobald der Tod erst einmal seine Klauen ausgestreckt hat, kann man nichts mehr tun. Wir sind schwach im Angesicht der Begierden des Jenseits. Der Arzt bot an, einen Wickel zu machen und Kräuter für einen Tee zu mischen, aber er war ein
guter und ehrlicher Mensch. Er konnte unsere Situation einschätzen.
»Das kann ich zwar machen für Euer kleines Mädchen«, vertraute er Baba an, »aber Ihr gebt nur Geld für einen hoffnungslosen Fall aus.«
Doch der schlechten Nachrichten waren es an diesem Tag noch nicht genug. Während wir vor dem Arzt einen Kotau machten, schaute er sich im Zimmer um. Er sah Großmutter unter ihren Decken liegen. Er ging zu ihr hinüber, berührte ihre Stirn und lauschte den versteckten Pulsschlägen, die ihr chi maßen. Er blickte zu meinem Vater auf. »Eure verehrte Mutter ist sehr krank. Warum habt Ihr das nicht eher erwähnt?«
Wie konnte Baba darauf antworten, ohne sein Gesicht zu verlieren? Er war ein guter Sohn, aber er war auch ein Mann, und diese Angelegenheit gehörte in den inneren Bereich. Dennoch war das Wohlergehen von Großmutter seine oberste Sohnespflicht. Während er unten mit seinem Bruder in aller Ruhe seine Pfeife geraucht und auf das Ende des Winters gewartet hatte, waren oben zwei Menschen in den Bann von Geistern geraten.
Wieder stellten sich unserer ganzen Familie Fragen. Wurde zu viel Zeit für wertlose Mädchen verschwendet und damit zugelassen, dass die eine Frau von Wert und Ansehen in unserem Haus schwächer wurde? Hatte all das Hin- und Hergehen mit Dritter Schwester Großmutter ihres Vorrats an Schritten beraubt? Hatte Großmutter – die das Gebrüll von Dritter Schwester nicht mehr hören wollte – ihr chi stillgelegt, um den lästigen Krawall auszuschalten? Waren die Geister, die gekommen waren, um sich Dritte Schwester zu holen, von der Möglichkeit, ein weiteres Opfer mit sich zu nehmen, in Versuchung geführt worden?
Nach dem ganzen Aufruhr um Dritte Schwester in der letzten Woche konzentrierte sich nun alle Aufmerksamkeit auf
Großmutter. Mein Vater und mein Onkel wichen ihr nur von der Seite, um zu rauchen, zu essen oder sich zu erleichtern. Tante übernahm sämtliche Aufgaben im Haushalt, sie kochte für alle, wusch und kümmerte sich um uns. Nie sah ich Mama schlafen. Als Erste Schwiegertochter hatte sie zwei Hauptaufgaben im Leben: Söhne zu bekommen, um die Familie fortzuführen, und sich um ihre Schwiegermutter zu kümmern. Sie hätte gewissenhafter auf Großmutters Gesundheit achten müssen. Stattdessen hatte sie zugelassen, dass männlicher Ehrgeiz in ihr Denken eindrang, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf mich und meine glückliche Zukunft richtete. Nun vollzog sie mit der wilden Entschlossenheit, die von vorheriger Pflichtvergessenheit herrührte, alle vorgeschriebenen Rituale, bereitete besondere Opfergaben für die Götter und unsere Vorfahren, betete und sang und kochte sogar Suppe aus ihrem eigenen Blut, um Großmutters Lebenskraft wieder aufzubauen.
Da jeder mit Großmutter beschäftigt war, waren Schöner Mond und ich damit betraut, auf Dritte Schwester aufzupassen. Wir waren erst sieben und hatten nicht die geringste Ahnung, wie wir ihr mit Worten oder Taten Linderung verschaffen konnten. Sie litt große Qualen, aber es waren nicht die schlimmsten, die ich in meinem Leben sehen sollte. Vier Tage später starb sie, nachdem sie mehr Schmerz und Leid ertragen hatte, als für ein so kurzes Leben gerecht war. Großmutter starb einen Tag danach. Niemand sah sie leiden. Sie rollte sich einfach immer kleiner und kleiner zusammen wie eine Raupe unter einer herbstlichen Laubdecke.
Der Boden war zu hart für eine Beerdigung. Großmutters zwei verbliebene Schwurschwestern kümmerten sich um sie, sangen Trauerlieder, hüllten ihren Körper in Musselin und kleideten sie für ihr Leben im Jenseits. Sie war eine alte Frau, die ein langes Leben hinter sich hatte, deshalb hatten ihre Kleider für die
Ewigkeit viele Schichten. Dritte Schwester war erst sechs. Sie
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