Seidenfächer
hatte keinen lebenslangen Vorrat an Kleidern, die sie warmhielten, oder viele Freundinnen, die sie im Jenseits treffen würde. Sie hatte ihre Sommersachen und ihre Wintersachen, und sogar diese hatten Ältere Schwester und ich vor ihr getragen. Großmutter und Dritte Schwester verbrachten den Rest des Winters unter einem Leichentuch aus Schnee.
Ich würde sagen, in dem Zeitraum zwischen dem Tod von Großmutter und Dritter Schwester und ihrer Beerdigung änderte sich viel im Frauengemach. Ja, wir gingen immer noch unsere Runden. Wir badeten immer noch alle vier Tage unsere Füße und zogen alle zwei Wochen kleinere Schuhe an. Aber nun wachten Mama und Tante besonders aufmerksam über uns. Und auch wir waren vorsichtig, wir leisteten nie Widerstand und beklagten uns nie. Wenn es Zeit wurde, unsere Füße zu baden, war unser Blick genau wie der von Mama und Tante auf den Eiter und das Blut geheftet. Jeden Abend, nachdem man uns Mädchen schließlich allein gelassen hatte, und jeden Morgen, bevor wir mit den täglichen Pflichten begannen, überprüfte Ältere Schwester unsere Beine, um sicherzugehen, dass sich keine ernsthaften Infektionen entwickelten.
Ich denke oft an diese ersten paar Monate unseres Füßebindens zurück. Mama, Tante, Großmutter und sogar Ältere Schwester sagten uns damals bestimmte Sätze vor, um uns Mut zu machen. Einer lautete: »Heiratest du ein Huhn, bleibst du bei einem Huhn; heiratest du einen Hahn, bleibst du bei einem Hahn.« Wie so oft hörte ich die Worte, ohne ihre Bedeutung zu verstehen. Die Fußgröße würde entscheidend dafür sein, wie gut oder schlecht ich zu verheiraten war. Meine kleinen Füße sollten meinen zukünftigen Schwiegereltern als Beweis meiner persönlichen Disziplin und meiner Fähigkeit gelten, die Schmerzen der Geburt sowie alle anderen möglichen Missgeschicke zu ertragen. Meine kleinen Füße würden der Welt meinen Gehorsam
gegenüber meinen Eltern beweisen, insbesondere meiner Mutter gegenüber, was wiederum auch einen guten Eindruck auf meine zukünftige Schwiegermutter machen würde. Die Schuhe, die ich bestickte, würden meinen Schwiegereltern zeigen, wie geschickt ich mich mit der Nadel anstellte und daher bei allen anderen Hausarbeiten. Und auch wenn ich damals noch nichts darüber wusste, so würden meine Füße etwas sein, das meinen Ehemann in den privatesten und intimsten Augenblicken zwischen einem Mann und einer Frau stets faszinierte. Sein Verlangen, sie anzusehen und in der Hand zu halten, ließ während unseres gemeinsamen Lebens nie nach, auch nicht, nachdem ich fünf Kinder bekommen hatte, nicht einmal, nachdem der Rest meines Körpers keinen Anreiz zum Liebesspiel mehr bot.
DER FÄCHER
S echs Monate waren seit unserem Füßebinden vergangen, zwei Monate seit dem Tod von Großmutter und Dritter Schwester. Der Schnee schmolz, der Boden wurde weicher, und Großmutter und Dritte Schwester wurden für die Beerdigung vorbereitet. Im Leben der Yao – nein, aller Chinesen – gibt es drei Ereignisse, für die das meiste Geld ausgegeben wird: Geburt, Hochzeit und Tod. Wir alle wünschen uns, gut geboren zu werden und gut zu heiraten. Wir alle wünschen uns, gut zu sterben und gut beerdigt zu werden. Aber das Schicksal und die Lebensumstände beeinflussen diese drei Ereignisse wie keine anderen. Großmutter war die Matriarchin, die ein beispielhaftes Leben geführt hatte. Jüngere Schwester hatte nichts erreicht. Baba und Onkel sammelten alles Geld zusammen, das sie hatten, und beauftragten einen Sargschreiner in Shangjiangxu, einen guten Sarg für Großmutter zu schreinern. Für Dritte Schwester zimmerten Baba und Onkel eine kleine Kiste. Die Schwurschwestern von Großmutter kamen wieder, und wir hielten endlich die Beerdigung ab.
Wieder einmal wurde mir vor Augen geführt, wie arm wir waren. Wenn wir mehr Geld gehabt hätten, dann hätte Baba vielleicht einen Witwenbogen gebaut, um an Großmutters Leben zu erinnern. Vielleicht hätte er mit Hilfe des Wahrsagers versucht, einen günstigen Platz mit den besten feng-shui -Elementen für ihre Beerdigung zu finden, oder er hätte eine Sänfte gemietet, um seine Tochter und seine Nichte, die immer noch nicht sehr weit laufen konnten, zur Grabstätte zu bringen.
Doch solche Dinge konnten wir uns nicht leisten. Mama trug mich auf dem Rücken, und Schöner Mond wurde von Tante getragen. Unsere schlichte Prozession führte zu einer Stelle nicht weit vom Haus entfernt, aber noch auf dem von uns
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