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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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wusste auch, was uns drinnen erwartete. Sosehr ich meine Familie und unser Heim liebte, mir war doch klar, dass Schneerose etwas Besseres gewöhnt war. Und sie hatte weder Kleider noch Toilettenartikel dabei.
    Mama kam heraus, um uns zu begrüßen. Sie gab mir einen Kuss und legte Schneerose den Arm um die Schultern, dann führte sie sie über unsere Schwelle ins Haus. Während unserer Abwesenheit hatten Mama, Tante und Ältere Schwester hart gearbeitet, um das Hauptzimmer sauber zu machen. Sie hatten alles, was herumlag, weggeschafft, herumhängende Kleidungsstücke abgenommen und das Geschirr verstaut. Unser fester Lehmboden war gekehrt, und sie hatten ihn mit Wasser besprengt, damit er härter war und die Luft kühler wurde.
    Schneerose wurde von allen begrüßt, auch von Älterem Bruder. Als das Abendessen aufgetragen wurde, tauchte Schneerose ihre Essstäbchen zuerst in ihre Teeschale, um sie zu reinigen, aber bis auf diese kleine Geste, die mehr Vornehmheit zeigte, als irgendjemand in meiner Familie je gesehen hatte, tat sie ihr Bestes, um ihre Gefühle zu verbergen. Doch mit meinem Herzen
kannte ich Schneerose bereits allzu gut. Sie ließ sich nur nichts anmerken. In meinen Augen war sie offensichtlich entsetzt über die Art und Weise, wie wir lebten.
    Es war ein langer Tag gewesen, und wir waren sehr müde. Als es Zeit wurde, nach oben zu gehen, wurde mir wieder flau im Magen, aber die Frauen unseres Haushalts waren auch dort fleißig gewesen. Sie hatten die Bettwäsche gelüftet und alle Sachen, mit denen wir uns täglich beschäftigten, ordentlich auf Stapel sortiert. Mama zeigte auf eine Schüssel mit frischem Wasser, mit dem wir uns waschen sollten. Zwei Garnituren meiner Kleider und eine von Älterer Schwester lagen frisch gewaschen bereit. Schneerose sollte diese Sachen anziehen, während sie bei uns zu Gast war. Ich ließ Schneerose die Wasserschüssel zuerst benutzen, aber sie tauchte kaum die Finger ein; wahrscheinlich fürchtete sie, es sei nicht rein genug. Mit zwei Fingern hielt sie das Schlafgewand, das ich ihr gab, von ihrem Körper weg und betrachtete es genau, als wäre es ein stinkender Fisch statt des neuesten Kleidungsstücks von Älterer Schwester. Sie blickte auf, sah unsere Blicke auf ihr ruhen, dann zog sie sich ohne ein Wort aus und schlüpfte in das Nachtgewand. Wir stiegen ins Bett. In dieser Nacht und in allen zukünftigen Nächten, in denen Schneerose bei uns übernachtete, schlief Ältere Schwester bei Schöner Mond.
    Mama sagte uns beiden gute Nacht. Dann beugte sie sich herab, gab mir einen Kuss und flüsterte mir ins Ohr: »Ehrenwerte Frau Wang hat uns gesagt, was wir tun müssen. Sei glücklich, mein Kleines, sei glücklich.«
    Da lagen wir nun Seite an Seite unter einer leichten Baumwolldecke. Wir waren kleine Mädchen, doch so müde wir auch waren, wir konnten nicht aufhören zu flüstern. Schneerose fragte mich über meine Familie aus. Ich stellte ihr Fragen über ihre. Ich erzählte ihr, wie Dritte Schwester gestorben war. Sie erzählte mir, dass ihre dritte Schwester an einem Husten gestorben
war. Sie wollte mehr über unser Dorf wissen, und ich erklärte ihr, dass Puwei in unserem Dialekt »Dorf der gewöhnlichen Schönheit« bedeute. Sie erklärte mir, dass Tongkou »Dorf des Baumtors« bedeute, und wenn ich sie besuchte, würde ich sehen, weshalb.
    Der Mond schien durch das Gitterfenster und beleuchtete Schneeroses Gesicht. Ältere Schwester und Schöner Mond schliefen ein, aber Schneerose und ich redeten weiter. Als Frauen dürfen wir nie über unsere gebundenen Füße reden, weil das als ungehörig und nicht damenhaft gilt und solche Gespräche nur die Leidenschaft von Männern entflammen. Aber wir waren Mädchen, und das Füßebinden war immer noch nicht beendet. Es gehörte noch nicht zu den Erinnerungen, so wie jetzt, sondern Schmerz und Leiden waren noch ganz frisch. Schneerose erzählte, wie sie sich vor ihrer Mutter versteckt und ihren Vater gebeten hatte, Erbarmen mit ihr zu haben. Ihr Vater hätte beinahe nachgegeben, doch dann hätte Schneerose als alte Jungfer im Haus ihrer Eltern leben müssen oder als Dienerin in einem anderen.
    »Aber als mein Vater dann angefangen hat, seine Pfeife zu rauchen«, erklärte Schneerose, »hat er sein Versprechen vergessen. Er war geistig ganz abwesend, und da haben mich meine Mutter und meine Tante dann nach oben gebracht und mich an einen Stuhl gebunden. Das ist der Grund, weshalb ich, genau wie du, ein Jahr später als

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