Seidenfächer
üblich mit dem Füßebinden angefangen habe.« Das bedeutete jedoch nicht, dass sie ihr Schicksal bereitwillig angenommen hätte, nachdem es erst beschlossene Sache war. Nein, in den ersten Monaten kämpfte sie dagegen an und riss sich die Bandagen sogar einmal ganz ab. »Das nächste Mal hat mir meine Mutter die Füße noch fester gebunden – und mich an einen Stuhl.«
»Du kannst nicht gegen dein Schicksal an«, sagte ich. »Es ist vorausbestimmt.«
»Meine Mutter behauptet das auch«, entgegnete Schneerose. »Sie hat mich nur losgebunden, wenn ich laufen sollte oder den Nachttopf benutzen musste. Ich habe die ganze Zeit aus dem Gitterfenster hinausgeschaut. Ich habe die Vögel vorbeifliegen sehen. Ich bin den Wolken auf ihrer Reise gefolgt. Ich habe den Mond beobachtet, wie er größer wurde und dann geschrumpft ist. Vor meinem Fenster ist so viel passiert, dass ich beinahe vergessen habe, was in diesem Zimmer vor sich ging.«
Wie mich das alles einschüchterte! Schneerose hatte den für das Zeichen des Pferdes so typischen Drang zur Unabhängigkeit, nur hatte ihr Pferd Flügel, die sie weit hinauf in die Luft trugen, während meines sich eher am Boden abplackte. Doch dieses Gefühl im Magen – etwas Ungehöriges, das an den Grenzen unseres vorbestimmten Lebens rüttelte -, das wurde zu einem inneren Reiz, der mit der Zeit zu einer tiefen Begierde werden sollte.
Schneerose kuschelte sich eng an mich, so dass sich unsere Gesichter ganz nah waren. Sie legte mir die Hand auf die Wange und sagte: »Ich bin froh, dass wir Weggefährtinnen sind.« Dann schloss sie die Augen und schlief ein.
Ich lag neben ihr, betrachtete ihr Gesicht im Mondlicht, spürte das zarte Gewicht ihrer kleinen Hand auf meiner Wange, hörte, wie ihr Atem tiefer wurde, und fragte mich, wie ich sie dazu bringen konnte, mich so zu lieben, wie ich geliebt werden wollte.
LIEBE
V on uns Frauen wird erwartet, dass wir unsere Kinder lieben, sobald sie unseren Körper verlassen. Aber wer von uns hat beim Anblick einer Tochter keine Enttäuschung verspürt? Oder die dunkle Schwermut, selbst wenn man einen wertvollen Sohn in den Armen hält, der aber nichts macht als zu schreien, so dass die Schwiegermutter einen ansieht, als wäre einem die Milch sauer geworden? Wir lieben unsere Töchter vielleicht von ganzem Herzen, aber wir müssen sie durch Schmerzen erziehen. Am allermeisten lieben wir unsere Söhne, aber wir können niemals Teil ihrer Welt – des äußeren Bereichs der Männer – werden. Von uns wird erwartet, dass wir unsere Männer vom Tag der förmlichen Verlobung an lieben, obwohl wir sie erst sechs Jahre später zu Gesicht bekommen. Von uns wird erwartet, dass wir unsere Schwiegereltern lieben, aber wir kommen als Fremde in diese Familien, als niedrigstes Mitglied des Haushalts, nur eine Stufe über einer Dienerin. Uns wird gesagt, dass wir die Vorfahren unserer Ehemänner lieben und ehren sollen, also führen wir die vorgeschriebenen Rituale durch, auch wenn wir im Herzen still und leise unseren eigenen Ahnen danken. Wir lieben unsere Eltern, weil sie sich um uns kümmern, aber wir werden als nutzlose Äste des Familienstammbaums betrachtet. Wir kosten die Familie nur Geld. Wir werden von einer Familie für eine andere aufgezogen. So glücklich wir in unserem Elternhaus auch sind, wir wissen doch, dass der Abschied unvermeidlich ist. Alle diese Arten von Liebe entspringen Pflicht, Respekt und Dankbarkeit. Und die meisten davon verursachen
Kummer, Trennung und Brutalität, wie die Frauen in meinem Landkreis wissen.
Doch die Liebe zwischen zwei Weggefährtinnen ist etwas völlig anderes. Wie Ehrenwerte Frau Wang sagte, wird ein laotong -Bund aus freien Stücken geknüpft. Es stimmt zwar, dass Schneerose und ich nicht alles, was wir einander bei unserem ersten Kontakt durch den Fächer geschrieben hatten, auch so meinten. Aber wir spürten doch etwas ganz Besonderes zwischen uns, als wir uns in der Sänfte zum ersten Mal in die Augen sahen – wie ein Funke, der ein Feuer entzündet, oder ein Korn, aus dem Reis wächst. Doch ein einzelner Funke reicht nicht aus, um ein Zimmer zu erwärmen, und ein einziges Korn ist nicht genug für eine reiche Ernte. Tief empfundene Liebe – wahre Herzensliebe – muss wachsen. Damals hatte ich noch keine Ahnung von der brennenden Art der Liebe, deshalb dachte ich an die Reisfelder, die ich auf meinem täglichen Weg hinunter zum Fluss mit meinem Bruder sah, als ich noch alle meine
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