Seidenfächer
Milchzähne hatte. Vielleicht konnte ich unsere Liebe gedeihen lassen wie ein Bauer seine Saat – durch harte Arbeit, unerschütterlichen Willen und den Segen der Natur. Seltsam, dass ich mich heute noch daran erinnere! Waaa ! Ich wusste so wenig vom Leben, aber doch genug, um wie ein Bauer zu denken.
Als Mädchen bereitete ich mir also den Boden, auf den ich pflanzen konnte – ich holte mir ein Blatt Papier von Baba oder bat Ältere Schwester um ein kleines Stück von ihrem Mitgiftstoff. Meine Saat waren die Nushu-Zeichen, die ich schrieb. Frau Wang wurde mein Bewässerungsgraben. Wenn sie vorbeikam, um den Fortschritt meiner Füße zu begutachten, gab ich ihr mein Sendschreiben – in Form eines Briefes, einer Webarbeit oder eines bestickten Taschentuchs -, und sie überbrachte es Schneerose.
Nichts kann ohne Sonne wachsen – und das ist das Einzige, worauf der Bauer keinen Einfluss hat. Daher glaubte ich, dass
Schneerose diese Rolle ausfüllte. Für mich kam der Sonnenschein in Gestalt ihrer Antworten auf meine Nushu-Briefe. Wenn ich etwas von Schneerose bekam, versammelten wir uns alle, um die Zeichen zu entschlüsseln, denn sie verwendete bereits Wörter und Bilder, die Tantes Wissen an seine Grenzen brachte.
Ich schrieb typische Kleinmädchendinge: Mir geht es gut. Wie geht es dir? Sie antwortete zum Beispiel: Zwei Vögel sitzen auf einem Baumwipfel. Zusammen fliegen sie hinauf in den Himmel. Ich schrieb: Heute hat Mama mir beigebracht, wie man Klebreis in ein Taroblatt wickelt. Schneerose schrieb dann zurück: Heute habe ich aus meinem Gitterfenster hinausgeblickt. Ich dachte an den Phönix, der aufsteigt, um einen Gefährten zu finden, dann habe ich an dich gedacht. Ich schrieb: Für die Hochzeit von Älterer Schwester ist ein günstiger Tag bestimmt worden. Ihre Antwort: Deine Schwester befindet sich nun im zweiten Stadium ihrer vielen Hochzeitsbräuche. Glücklicherweise wird sie noch ein paar Jahre bei euch bleiben. Ich schrieb: Ich will alles lernen. Du bist klug. Willst du meine Lehrerin sein? Und sie: Auch ich lerne von dir. Das macht uns zu einem Mandarinentenpärchen, das zusammen sein Nest baut. Ich schrieb: Was ich schreibe, ist nicht von tiefer Bedeutung, und wie ich schreibe, ist grob, aber ich wünschte, du wärst hier, und wir könnten uns nachts flüsternd unterhalten. Ihre Antwort: Zwei Nachtigallen singen in der Dunkelheit.
Ihre Worte flößten mir Angst ein, gleichzeitig machten sie mich froh. Sie war schlau. Sie war weit gebildeter als ich. Aber das war es nicht, was mir Angst machte. In jeder Nachricht sprach sie von Vögeln, vom Fliegen, von der Welt, die weit entfernt lag. Schon damals flog sie gegen das an, was ihr vorgesetzt wurde. Ich wollte mich an ihren Flügeln festhalten und aufsteigen in die Lüfte, ganz egal, wie eingeschüchtert ich war.
Bis auf die erstmalige Übergabe des Fächers schickte mir
Schneerose niemals etwas, ohne dass ich ihr zuerst etwas geschickt hätte. Mir machte das nichts aus. Ich schmeichelte ihr. Ich wässerte sie mit meinen Briefen, und sie reagierte stets, indem sie mir einen neuen Trieb oder eine neue Blüte schenkte. Doch etwas machte mir Sorgen. Ich wollte sie gerne wiedersehen. Sie hätte mich eigentlich zu sich nach Hause einladen müssen, doch dazu kam es nie.
Eines Tages schaute Ehrenwerte Frau Wang wieder vorbei, und diesmal brachte sie den Fächer mit. Ich öffnete ihn nicht mit einer einzigen Bewegung. Stattdessen ließ ich nur die ersten drei Falten aufklicken, so dass ich zunächst ihre erste Botschaft an mich sah, daneben meine Antwort darauf, und wieder daneben eine neue Nachricht:
Wenn deine Familie einverstanden ist, würde ich dich gerne im elften Monat besuchen kommen. Wir werden beisammensitzen, Garn einfädeln, unsere Farben auswählen und uns leise flüsternd unterhalten.
Der Blumengirlande hatte sie eine weitere zarte Blüte hinzugefügt.
Am vereinbarten Tag wartete ich am Gitterfenster und hielt Ausschau nach der Sänfte, die um die Ecke biegen sollte. Als sie vor unserem Eingang hielt, wäre ich am liebsten nach unten und hinaus auf die Straße gerannt, um meine laotong zu begrüßen. Doch das war unmöglich. Mama ging hinaus, und die Tür der Sänfte öffnete sich. Schneerose trat auf die Straße. Sie trug wieder ihre himmelblaue Jacke mit dem Wolkenmuster. Ich glaubte, das sei ihre Reisekleidung, die sie bei jedem Besuch anzog, um meine Familie nicht wegen ihrer Armut zu beschämen.
Schneerose hatte dem Brauch
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