Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
Vom Netzwerk:
gute Konkubine abgeben würde. Er stattete Meister Hu einen Besuch ab, verhandelte um die kluge Tochter, und schon bald war Yuxiu auf dem Weg in die Hauptstadt. Ob das ein glückliches Ende war? In mancher Beziehung schon. Meister Hu bekam viele Geschenke, und Yuxiu war ein höfisches Leben mit Jade und Seide garantiert. Doch, Mädchen, ich sage euch, selbst jemand, der so klug und kultiviert war wie Yuxiu, konnte diesem traurigen Moment des Abschieds von ihrem Elternhaus nicht entgehen. Oh, wie ihrer Mutter die Tränen über die Wangen liefen. Oh, wie ihre Schwestern vor Trauer weinten. Aber niemand war so traurig wie Yuxiu.«
    Diesen Teil der Geschichte hatten wir gut gelernt. Für Yuxiu war die Trennung von ihrer Familie nur der Anfang ihres Leids. Trotz all ihrer Fähigkeiten konnte sie den Kaiser nicht für alle Zeit unterhalten. Er wurde ihres hübschen Mondgesichts, ihrer Mandelaugen, ihres Kirschmunds überdrüssig, während ihre Talente – so bemerkenswert sie im Landkreis Yongming gewesen sein mochten – verglichen mit denen der anderen Damen des Hofes unbedeutend waren. Arme Yuxiu. Sie war den Palastintrigen nicht gewachsen. Die anderen Frauen und Konkubinen hatten keine Verwendung für das Mädchen vom Lande. Sie war einsam und traurig, aber sie hatte keine Möglichkeit, mit ihrer Mutter und ihren Schwestern zu kommunizieren, ohne dass die anderen es herausfanden. Ein unvorsichtiges Wort konnte zur Folge haben, dass ihr der Kopf abgeschlagen oder sie in einen der Palastbrunnen geworfen wurde, um sie für immer zum Schweigen zu bringen.
    »Yuxiu behielt Tag und Nacht ihre Gefühle für sich«, fuhr Tante fort. »Die anderen bösen Frauen und die Eunuchen beobachteten sie, während sie still ihre Nadelarbeit verrichtete oder
ihre Schriftzeichen übte. Die ganze Zeit machten sie sich über ihre Arbeit lustig. ›Das ist zu schlampig‹, sagten sie. Oder: ›Seht nur, wie dieses Landäffchen versucht, die Männerschrift nachzumachen. ‹ Jedes Wort aus ihrem Munde war grausam, aber Yuxiu versuchte gar nicht, die Männerschrift nachzumachen. Sie veränderte sie, stellte sie schräg, machte sie weiblicher und schuf am Ende völlig neue Zeichen, die wenig oder gar nichts mit der Männerschrift zu tun hatten. In aller Stille erfand sie einen Geheimcode, damit sie ihrer Mutter und ihren Schwestern nach Hause schreiben konnte.«
    Schneerose und ich hatten oft gefragt, wie es kam, dass Yuxius Mutter und Schwestern den Geheimcode lesen konnten, und heute flocht Tante die Antwort in die Geschichte ein.
    »Vielleicht schmuggelte ein mitfühlender Eunuch einen Brief von Yuxiu hinaus, in dem alles erklärt wurde. Vielleicht wussten die Schwestern aber auch nicht, was die Nachricht besagte und legten sie achtlos zur Seite, und als sie einfach so dalag, erkannten und interpretierten sie die kursiv gestellten Zeichen. Mit der Zeit erfanden die Frauen dieser Familie neue phonetische Zeichen, die man aus dem Zusammenhang heraus verstehen konnte, so wie ihr Mädchen es jetzt lernt. Doch dies würde nun wieder die Männer interessieren.« In ernstem Ton erinnerte sie uns daran, dass uns diese Fragen nichts angingen. »Wir sollten von Yuxius Leben wissen, dass sie einen Weg gefunden hat mitzuteilen, wie es unter der glücklichen Oberfläche ihres Lebens aussah, und dass ihr Geschenk über zahlreiche Generationen an uns weitergereicht wurde.«
    Einen Moment lang schwiegen wir und gedachten dieser einsamen Konkubine. Tante fing als Erste an zu singen, und wir drei fielen ein, während Mama zuhörte. Es war ein trauriges Lied, das angeblich direkt aus dem Munde Hu Yuxius stammte. Unsere Stimmen kündeten von ihrem Kummer:
    »Meine Schriften sind durchtränkt von den Tränen des
Herzens,
Eine unsichtbare Rebellion, die kein Mann sehen kann.
Lasst unsere Lebensgeschichten zu einer tragischen Kunst
werden.
Oh, Mama, oh, Schwestern, hört mich an, hört mich an.«
    Die letzten Töne trieben durch das Gitterfenster hinaus durch die Gassen. Tante sagte: »Denkt daran, Mädchen, nicht alle Männer sind Kaiser, aber alle Mädchen heiraten weg. Yuxiu hat Nushu für die Frauen in unserem Land erfunden, damit wir die Bindung zu unserem Elternhaus aufrechterhalten können.«
    Wir nahmen unsere Nadeln auf und begannen zu sticken. Am nächsten Tag erzählte uns Tante die Geschichte noch einmal.
     
    In dem Jahr, in dem Schneerose und ich dreizehn wurden, mussten wir das, was wir gelernt hatten, schon anwenden, und man erwartete von uns, dass

Weitere Kostenlose Bücher