Seidenfächer
geben.
»Du hast Glück, Lilie«, sagte Schneerose eines Tages. »Ich habe den Jungen der Lus gesehen. Er ist mein Cousin zweiten Grades. Seine Haare sind schwarzblau wie die Nacht. Er ist freundlich zu Mädchen. Er hat einmal einen Mondkuchen mit mir geteilt. Das wäre gar nicht nötig gewesen.« Sie erzählte mir,
dass mein zukünftiger Mann im Jahr des Tigers geboren war, ein Zeichen, das ebenso feurig ist wie meines, so dass wir bestens zueinander passten. Sie erzählte mir, was ich alles wissen musste, um mich in die Familie Lu einzufügen. »In diesem Haushalt ist immer viel los«, erklärte sie. »Als Oberhaupt empfängt Meister Lu zahlreiche Besucher von innerhalb und außerhalb des Dorfes. Darüber hinaus wohnen viele Leute in dem Haus. Sie haben keine Töchter, aber es werden Schwiegertöchter einheiraten. Du wirst Schwiegertochter Nummer eins. Du beginnst gleich auf einer hohen Position. Wenn du als Erste einen Sohn bekommst, wirst du diesen Rang für immer halten. Das heißt aber nicht, dass du nicht ähnliche Probleme bekommst wie Yuxiu, die Konkubine des Kaisers. Meister Lus Frau hat ihm zwar vier Söhne geschenkt, aber er hat trotzdem drei Konkubinen. Das muss so sein, weil er das Oberhaupt ist. Dadurch demonstriert er seine Stärke.«
Das hätte mir mehr Sorgen bereiten sollen. Denn wenn der Vater sich Konkubinen hält, wird es der Sohn wahrscheinlich auch tun. Aber ich war so jung und so unschuldig, dass mir das gar nicht in den Sinn kam. Und selbst wenn, ich hätte nicht gewusst, was das für Probleme mit sich bringen konnte. Meine Welt bestand immer noch nur aus Mama und Baba, Tante und Onkel – ganz, ganz einfach.
Schneerose wandte sich an Schöner Mond, die wie immer still bei uns saß und darauf wartete, dass wir sie mit einbezogen. Schneerose sagte: »Schöner Mond, ich freue mich für dich. Ich kenne diese Familie Lu sehr gut. Dein zukünftiger Mann wurde, wie du weißt, im Jahr des Wildschweins geboren. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er standhaft, galant und aufmerksam ist, während du als Schaf in ihn vernarrt sein wirst. Auch dieses Paar passt perfekt zusammen.«
»Und meine Schwiegermutter?«, fragte Schöner Mond zaghaft.
»Diese Ehrenwerte Frau Lu besucht meine Mutter jeden Tag. Sie ist sehr gutherzig, so gutherzig, wie ich es dir gar nicht sagen kann.«
Plötzlich standen Schneerose Tränen in den Augen. Es war so seltsam, dass Schöner Mond und ich kicherten, weil wir es für eine Art Spaß hielten. Meine laotong blinzelte rasch.
»Ein Geist ist mir ins Auge gefahren!«, rief Schneerose schnell, bevor sie in unser Gelächter einfiel. Dann fuhr sie fort, wo sie gerade abgebrochen hatte. »Schöner Mond, du wirst sehr zufrieden sein. Sie werden dich sehr lieben. Und das Beste ist, du kannst jeden Tag zu Lilie hinüberlaufen. So nahe werdet ihr beieinander wohnen.«
Schneerose wandte sich wieder mir zu. »Deine Schwiegermutter ist sehr auf Traditionen bedacht«, sagte sie. »Sie befolgt alle Frauenregeln. Sie achtet sehr darauf, was sie sagt. Sie ist stets gut gekleidet. Und wenn Gäste kommen, steht immer heißer Tee bereit.« Da Schneerose mir diese Dinge beigebracht hatte, hatte ich keine Angst, einen Fehler zu begehen. »In dem Haus gibt es mehr Diener, als ich in meiner Familie hatte«, fuhr Schneerose fort. »Du wirst nicht kochen müssen, außer um besondere Gerichte für die Dame Lu zuzubereiten. Du wirst dein Baby nicht stillen müssen, außer du willst es.«
Als sie mir das alles sagte, dachte ich, sie sei verrückt.
Ich stellte ihr noch einige Fragen über den Vater meines Mannes. Nach kurzem Nachdenken antwortete sie: »Meister Lu ist großzügig und mitfühlend, aber er ist auch klug, deshalb ist er das Oberhaupt des Dorfes. Jeder achtet ihn. Jeder wird auch seinen Sohn und dessen Frau achten.« Sie sah mich mit ihrem durchdringenden Blick an und wiederholte: »Du hast solch ein Glück.«
Mit Schneeroses Bildern aus Worten, was sollte ich da anderes tun, als mir mein Leben in Tongkou als Ehefrau eines liebenden Mannes und als Mutter vollkommener Söhne vorzustellen?
Mein Wissen reichte nach und nach deutlich über mein eigenes Dorf hinaus. Schneerose und ich waren mittlerweile schon fünfmal beim Gupotempel in Shexia gewesen. Jedes Jahr stiegen wir die Stufen zu dem Tempel hinauf, legten unsere Opfergaben auf den Altar und zündeten Räucherwerk an. Dann gingen wir zum Marktplatz, wo wir Stickgarn und Papier kauften. Den Abschluss des Tages bildete immer ein
Weitere Kostenlose Bücher