Seidenfächer
Schneerose. »Ich werde nicht für dich singen«, sagte sie. »Stattdessen will ich dir zeigen, wie deine Schwester und ich dich immer bei uns haben können.« Sie zog unseren Fächer aus dem Ärmel, schlug ihn auf und las das einfache Verspaar vor, das wir zusammen geschrieben hatten: » Ältere Schwester und gute Freundin, stets warst du still und freundlich. Die Erinnerung an dich ist glücklich. « Dann deutete Schneerose auf die kleine rosa Blüte, die sie in unsere immer größer werdende Blumengirlande oben auf dem Fächer gemalt hatte, um Ältere Schwester für alle Zeiten dort zu verewigen.
Am nächsten Tag sammelten alle Bambusblätter und füllten Eimer mit Wasser. Als die neue Familie von Älterer Schwester ankam, ließen wir die Blätter über sie regnen, um zu symbolisieren, dass die Liebe der frisch Vermählten auf ewig so frisch sein würde wie dieser Bambus; dann schütteten wir das Wasser aus, um der Familie des Bräutigams zu sagen, dass Ältere Schwester so rein wie diese klare und lebenswichtige Flüssigkeit war. Diese Streiche wurden von viel Gelächter und Fröhlichkeit begleitet.
Weitere Stunden vergingen mit Essen und Klagen. Die Mitgift wurde vorgezeigt, und jeder ließ sich aus über die Qualität der Handarbeit von Älterer Schwester. Den ganzen Tag und die ganze Nacht über sah sie schön aus mit ihren glänzenden Tränen in den Augen. Am nächsten Morgen bestieg sie die Sänfte, um zu ihrer neuen Familie zu fahren. Wieder wurde Wasser ausgeschüttet, und die Leute riefen: »Eine Tochter zu verheiraten ist wie Wasser zu verschütten!« Wir alle begleiteten sie bis zum Dorfrand und sahen zu, wie die Prozession die Brücke überquerte und Puwei verließ. Drei Tage später wurden Klebreiskuchen, Geschenke und alle unsere Dritter-Tag-Hochzeitsbücher in das neue Dorf von Älterer Schwester geschickt, die
dann laut in ihrem neuen oberen Gemach vorgelesen wurden. Wie es der Brauch vorschrieb, nahm Älterer Bruder am nächsten Tag den Familienkarren, holte Ältere Schwester ab und brachte sie nach Hause. Bis auf einige eheliche Besuche im Jahr würde sie bis zum Ende ihrer ersten Schwangerschaft weiter bei uns wohnen.
Am eindrücklichsten ist mir von Älterer Schwesters Hochzeit noch in Erinnerung, wie sie im folgenden Frühjahr von einem Besuch im Heim ihres Mannes zurückkehrte. Normalerweise war sie immer sehr sanftmütig – sie saß in einer Ecke auf ihrem Schemel, arbeitete still an ihrer Stickarbeit, gab nie Anlass zu einem Streit und war stets gehorsam -, aber diesmal kniete sie auf dem Boden, vergrub das Gesicht in Mamas Schoß und weinte bitterlich. Ihre Schwiegermutter beleidigte sie ständig, beschwerte sich dauernd und kritisierte sie. Ihr Mann war ungebildet und grob. Ihre Schwiegereltern erwarteten, dass sie für die gesamte Familie das Wasser holte und die Wäsche wusch. Sie hatte ganz raue Knöchel von der Hausarbeit des Vortags. Diese Leute gaben ihr nur ungern zu essen, und sie schimpften über unsere Familie, weil wir nicht genügend Essen mitschickten, wenn Ältere Schwester auf Besuch war.
Schöner Mond, Schneerose und ich kuschelten uns zusammen und gurrten mitleidig, doch auch wenn uns Ältere Schwester furchtbar Leid tat, so glaubten wir in unserem tiefsten Inneren nicht, dass es uns ebenso ergehen würde. Mama strich Älterer Schwester über die Haare und klopfte ihr sanft auf den zitternden Rücken. Ich dachte, dass Mama ihr sagen würde, sie solle sich keine Sorgen machen und dass das alles irgendwann vorbeigehen würde, aber ich hörte nichts. Hilflos schaute Mama Tante an.
»Ich bin achtunddreißig Jahre alt«, sagte Tante, nicht mitleidig, sondern resigniert. »Ich habe ein erbärmliches Leben geführt. Meine Familie war gut, aber meine Füße und mein Gesicht
haben mein Schicksal bestimmt. Selbst eine Frau wie ich – die nicht sehr klug oder schön ist, die Missbildungen hat oder stumm ist – wird einen Ehemann finden, denn selbst ein zurückgebliebener Mann kann einen Sohn zeugen. Man braucht nur ein Gefäß dafür. Mein Vater hat mich an die beste Familie verheiratet, die er finden konnte und die gewillt war, mich zu nehmen. Ich habe geweint wie du jetzt. Das Schicksal war noch grausamer. Ich konnte keine Söhne bekommen. Ich war eine Last für meine Schwiegereltern. Ich wünschte, ich hätte einen Sohn bekommen und ein glückliches Leben führen können. Ich wünschte, meine Tochter würde nie wegheiraten, so dass sie meinen Klagen lauschen kann. Aber so
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