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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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ist doch niemand«, sagte sie. »Das erfährt kein Mensch.« Es war schon ein klein wenig besser, aber wir sehnten uns nach Kühlerem.
    In der dritten Nacht, die wir allein verbrachten, schien der Vollmond, und das obere Gemach schimmerte blau. Als wir uns sicher waren, dass die Männer schliefen, schlüpften wir aus unseren Unter- und unseren Oberkleidern. Wir trugen nichts als unsere Bandagen und unsere Schuhe. Wir spürten die Luft auf der Haut, aber eine kühle Brise war das nicht, und uns war immer noch so warm, als wären wir voll bekleidet.
    »Das reicht nicht«, sagte Schneerose, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
    Sie setzte sich auf und langte nach dem Fächer. Langsam öffnete sie ihn und fächelte meinem Körper damit Luft zu. So heiß diese Luft auf meiner Haut auch war, es war trotzdem
ein köstliches Gefühl. Doch Schneerose runzelte die Stirn. Sie klappte den Fächer zu und legte ihn weg. Sie betrachtete mein Gesicht, dann ließ sie den Blick über meinen Hals, meine Brüste und schließlich über meinen flachen Bauch wandern. Eigentlich hätte mir das peinlich sein sollen, wie sie mich anstarrte, aber sie war meine laotong , meine Weggefährtin. Da gab es keine Scham.
    Ich blickte auf und sah, wie sie den Zeigefinger zum Mund führte. Ihre Zunge spitzte heraus. In dem hellen Licht des Vollmonds sah ich sie rosa glitzern. Ganz, ganz zart ließ sie ihre Fingerspitze über diese feuchte Oberfläche gleiten. Dann führte sie den Finger zu meinem Bauch. Sie zeichnete eine Linie nach links, dann in die andere Richtung, gefolgt von so etwas wie zwei Kreuzen. Es fühlte sich so feucht und kühl an, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich schloss die Augen und ließ das Gefühl durch meinen Körper rieseln. Dann war das Feuchte plötzlich wieder weg. Als ich die Augen aufschlug, blickte mir Schneerose ins Gesicht.
    »Und?« Aber sie wartete gar nicht auf eine Antwort. »Das ist ein Zeichen«, erklärte sie. »Sag mir, welches.«
    Da verstand ich, was sie gemacht hatte. Sie hatte mir ein Nushu-Zeichen auf den Bauch geschrieben. Dieses Spiel spielten wir schon seit Jahren, wir malten Zeichen mit Stöcken in die Erde oder mit den Fingern auf die Hand oder den Rücken der anderen.
    »Ich mach’s noch mal«, sagte sie, »aber pass auf.«
    Sie leckte sich den Finger, und die Bewegung war nicht weniger flüssig als beim ersten Mal. Sobald mich der feuchte Finger berührte, musste ich einfach die Augen schließen. Mein Körper wurde ganz schwer und atemlos. Ein Strich nach links für eine Mondsichel, eine weitere Sichel darunter und spiegelverkehrt zur ersten, zwei Striche nach rechts für das erste Kreuz, dann noch zwei Striche nach links für das zweite. Wieder hielt ich die
Augen geschlossen, bis der kurze Schauder vorüber war. Als ich sie aufschlug, blickte mich Schneerose fragend an.
    »Bett«, sagte ich.
    »Stimmt«, antwortete sie leise. »Augen zu. Ich schreib noch eines.«
    Diesmal kritzelte sie das Zeichen viel enger und kleiner an eine Stelle neben meinem rechten Hüftknochen. Jetzt erkannte ich es sofort. Es war ein Verb, das »beleuchten« bedeutete.
    Als ich das sagte, senkte sie den Kopf und flüsterte mir ins Ohr: »Gut.«
    Das nächste Zeichen wirbelte über meinen Bauch neben den anderen Hüftknochen.
    »Mondlicht«, sagte ich. Ich öffnete die Augen. »Der Mond scheint auf das Bett.«
    Sie lächelte, weil ich die erste Zeile des Gedichts aus der Tang-Dynastie erkannt hatte, das sie mir beigebracht hatte, dann wechselten wir die Positionen. Wie sie eben bei mir, nahm auch ich mir Zeit, ihren Körper zu betrachten – ihren schlanken Hals, die kleinen Hügel ihrer Brüste, ihren flachen Bauch, der so einladend war wie ein neues Stück Seide, das auf die ersten Nadelstiche wartet, die beiden Hüftknochen, die deutlich hervortraten, darunter ein Dreieck so wie bei mir, dann zwei schlanke Beine, die sich nach unten verjüngten, bis sie in ihren roten seidenen Nachtschuhen verschwanden.
    Immerhin war ich noch nicht verheiratet. Ich wusste noch nicht, was Mann und Frau miteinander machen. Erst später erfuhr ich, dass es nichts Intimeres für eine Frau gibt als ihre Nachtschuhe, und dass es nichts Erotischeres für einen Mann gibt, als die weiße Haut einer nackten Frau vor dem leuchtenden Rot dieser Nachtschuhe zu sehen, aber in dieser Nacht ruhte mein Blick genau darauf. Es waren Schneeroses Sommerschuhe. Als Motiv für ihre Stickerei hatte sie sich die Fünf Gifte herausgesucht – Tausendfüßler,

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