Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
Tag war, im Gegensatz zu den letzten, verhangen und düster. Die kurzen, aber heftigen Regengüsse des Sommers hatten sich zu einem anhaltenden Nieselregen gewandelt. „Nein“, sagte Tomo schließlich. „Du bist stark genug, um diesen Yakuza in seine Schranken zu weisen, Isa-chan. Ein Monat geht schnell vorbei, und diese Aufgabe ist nicht unlösbar.“
„Aber ich habe keine Ahnung von Bondage!“, protestierte Isabelle. „Erst recht nicht von japanischem Bondage!“
„Das kann man lernen“, schmetterte Tomo den Protest ab. „Zumindest was die Theorie angeht, kann ich dir weiterhelfen.“
Isabelle fixierte ihre japanische Freundin. „Was hast du mir da bisher über dich verschwiegen?“, fragte sie mit einem angedeuteten Lächeln.
Tomo grinste. „Mein neuer Freund hat versucht, es mir schmackhaft zu machen. Ist nichts für mich. Für dich kann es allerdings nützlich sein.“
Isabelle prostete Tomo zu. „In diesem Fall lasse ich mir gerne etwas Neues von dir zeigen.“
Tomo führte Isabelle später zurück in die Untiefen der unermüdlichen Stadt Tokio. Die zierliche Japanerin schien jede Ecke, jedes Viertel, nahezu jedes Haus in der Millionenstadt zu kennen. Sie fuhren einen Teil der Strecke mit dem Taxi und rannten dann durch viele kleine Gassen, um dem Regen zu entgehen. Der Schirm, den Tomo aus ihrer überdimensionalen Handtasche gezogen hatte, reichte kaum für sie beide aus. Schließlich blieben sie vor einem winzigen Haus stehen. Es war ein seltener Anblick in der Metropole, die hauptsächlich von modernen Neubauten geprägt war, und in der an jeder Ecke Baustellen zu finden waren. Ganz traditionell kauerten sich gleich aussehende Holzbauten aneinander. Das Haus, vor dem sie standen, unterschied sich nicht großartig von seinen Nachbarn, aber Tomo hatte es zielsicher und ohne Zögern angesteuert. Die Außenfassade war dunkel durch den Regen und die verschiedenen Witterungseinflüsse.
Ohne Scheu trat Tomo unter das Vordach, zog ihre Schuhe aus und schob die hölzerne Schiebetür auf. Isabelle stellte ihre Pumps neben Tomos flache Sandalen und trat auf nackten Sohlen neben sie. Hinter der Tür führte eine hölzerne Treppe eine Etage höher. Wollte man das Haus betreten, musste man automatisch die Treppe hinauf. Sie quietschte unter dem Gewicht der beiden Frauen, und Isabelle hoffte, dass nichts durchbrach. Oben angekommen, standen sie in einem breiten Flur, zu dessen Seiten sich verschiedene Schiebetüren aus Papier befanden. Eine bewegte sich zur Seite und eine kleine, alte Frau trat hervor. Sie sagte etwas, aber Isabelle verstand nicht, was. Es war kein Dialekt, den man in Tokio sprach. Shin hatte ihr damals erzählt, dass die Dialekte der verschiedenen Regionen in Japan sich manchmal so stark unterschieden, dass man sie für verschiedene Sprachen halten konnte.
Tomo schien das Problem nicht zu haben. Sie verbeugte sich und antwortete im gleichen Dialekt. Die alte Frau lachte und entblößte einige Zahnlücken. Sie winkte und wackelte dann den Flur hinunter bis zu der vorletzten Schiebtür auf der rechten Seite. Tomo winkte Isabelle, damit sie ihr folgte.
Hinter der Schiebetür war die Luft trocken, was Isabelle verwunderte. Durch das Wetter draußen und das viele Holz hätte sie damit gerechnet, dass Feuchtigkeit das ganze Haus durchdrungen hätte. Der Architekt musste einige Kniffe angewandt haben, um die Feuchtigkeit auszuschließen. Der Kunstgriff war auch nötig, denn im Raum waren verschiedene hauchzarte Tuschzeichnungen aufgereiht.
Tomo verneigte sich vor der alten Frau, die etwas in Isabelles Richtung sagte und lachte, bevor sie sich zum Gehen wandte. „Was war das für ein Dialekt?“, fragte sie Tomo. „Von den Inseln. Sie kommt aus Hokkaidō. Meine Großmutter hat mir den Dialekt beigebracht.“ Tomo trat wieder neben Isabelle und grinste, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Sie meinte, dein Hintern sei wie geschaffen dazu, eingeschnürt zu werden.“
„Na wunderbar“, brummte Isabelle. Das war bereits das zweite Mal, dass ihr jemand etwas in der Richtung sagte. Kamo hatte das auch getan. Sie nahm die aufgehängten Bilder in näheren Augenschein. Sie waren an gespannten Leinen befestigt und erinnerten an unzählige Wäschestücke, die fein säuberlich aufgehängt worden waren. Jedes einzelne von ihnen zeigte die verschiedensten Arten der Fesselung. Die ‚Opfer‘ waren verschiedenen Geschlechts, aber auf ihren, mit nur sparsamen Pinselstrichen gemalten
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