Seidentanz
habe. Auf diese Weise gehe ich meinen inneren Weg. Ich frage mich nicht mehr, warum oder zu welchem En-de. Ich lebe, aber nicht nur für mich, sondern auch für die anderen. Das brauche ich. Das gibt mir Kraft.«
Er stand auf, trat ans Fenster. Die Sonne beleuchtete ihn; es sah aus, als wäre er von innen erhellt. Ich betrachtete die breiten Schultern, die schöne Rückenlinie, die schmalen Hüften. Er hatte die Gestalt eines Tänzers, schwerelos und doch erdverbunden: geschmeidige Knochen und kräftige Muskeln, lang und straff. Die Füße waren breit, die Zehen leicht gekrümmt.
Mir kam in den Sinn, daß die Sicherheit seiner Erscheinung auf einer Erkenntnis ruhte, die tiefer reichte als irgend etwas, was angeblich klarblickende Menschen begreifen konnten. Nach ein paar Atemzügen wandte er sich um, mit einem Blick auf die Uhr.
»Wollen wir jetzt nach Miwa fahren? Mit dem Wagen sind wir in einer halben Stunde da. Ich habe meinem Vater gesagt, daß ich Besuch mitbringe.«
21. Kapitel
W ir fuhren durch die engen Straßen von Naramachi, achteten auf die Radfahrer, die Hausfrauen, die spielenden Kinder.
Erst als wir die Ringstraße erreichten, beschleunigte er die Geschwindigkeit. Wir fuhren an Kramläden und Gemüsemärkten vorbei. Auf den Baikonen trocknete Wäsche, wie in Italien.
Elektrizitätsmasten ragten in den Himmel, Stromkabel spannten sich über altertümliche Gassen. Dann wieder weiß getünchte Mauern, Tore aus geflochtenem Bambus und Hecken aus Buchsbäumchen, alle pilzförmig geschnitten und von gleicher Größe. Über die Mauern wölbten sich grüne Ziegeldächer. Aus einem Park erhoben sich mehrstufige Tempelpagoden, seltsam anzusehen wie Fabeltürme in einem Bühnenmärchen. Mir kam das nicht fremd vor. Das Transitorische, die ausbleibende Bündigkeit, übten einen großen Reiz auf mich aus. Nichts kannte ich wirklich und doch fügte sich alles zusammen. Aus Splittern und Farbflecken formte sich ein Bild, das meiner Seele entsprach.
»Oft wird behauptet, daß das Individuum hier nicht zähle«, sagte Kunio. »Dabei ist unser Konformismus nur scheinbar. In Wirklichkeit pflegt jeder sein Ego. Als Reaktion gegen das altehrwürdige Ideal der Leere lieben wir das Chaotische, bauen irgendwas irgendwohin, tragen in unseren Wohnungen abstruse Mischungen zusammen. Und was die Sprache betrifft, sie enthält – wie du bemerkt haben wirst – eine große Anzahl Redensarten, die zwar demütig klingen, aber nur höflich sind. Wir denken uns nichts dabei, während Ausländer jedes Wort zer-pflücken und die abenteuerlichsten Vermutungen über unsere Seelenzustände daraus anstellen. Hast du Bücher über Japan gelesen?«
»Viele«, sagte ich, »ich habe viele gelesen.«
Er blinzelte verschmitzt.
»Hast du sie noch im Kopf?«
»Vielleicht habe ich die falschen Bücher gelesen«, sagte ich, worauf wir beide lachten.
Wir verließen die Vororte in südlicher Richtung. Ich betrachtete die vorbeiziehende Ebene. Das Licht war wie flüssiger Bernstein, und der Himmel, tiefblau, von Wolkenstreifen durchzogen. Wir erreichten ein Gebiet, in dem die Vergangenheit lebte; ich fühlte es ganz deutlich, obwohl ich nichts von dem wußte, was vor Zeiten hier geschehen war. Das offene innere Auge glich das Fehlen von Verständnis aus. Die unendlich vielen Nuancen von Grün wirkten verschwommen und gleichzeitig gestochen klar. Als ob sich seit dem Augenblick der Schöpfung nichts verändert hatte. Als ob die Erde bisher noch nie eine Spur, einen Rauch, einen Geruch, einen Schatten kennengelernt hatte, der vom Menschen stammte. Angesichts der grellbunten Reklametafeln, der schäbigen Mietshäuser, der Getreidesilos, der altmodischen Bahnschranken war der Eindruck widersinnig, aber ich kam nicht davon los. Eigentümliche Kuppen, mit Buschwerk überwachsen, ragten wie dunkelgrüne Kissen aus der Ebene.
»Grabhügel«, sagte Kunio. »Das ganze Land da drüben ist voll von ihnen.«
»Wer wurde dort bestattet?«
»Unsere ersten Kaiserinnen und Kaiser. Diese Art von To-tenkult stammt aus dem asiatischen Festland. Die Gräber haben die Form eines Schlüssellochs. Die Grabkammer wurde in den Felsen eingelassen, zugemauert und von einem Wassergraben umgeben.«
Über den Grabstätten pulsierte eine Aura, ein dunkler Schein.
Einige waren näher, andere fern. Sie zogen an, wie alles an-zieht, von dem man weiß, daß es ein Geheimnis birgt.
Er deutete auf einen bewaldeten Hügel, unmittelbar hinter einem Dorf. Die schräge Sonne
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