Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
hob die grellen oder zarten Schattierungen der Baumkronen hervor, während die Stämme wie aufgepflanzte rote Lanzen nach oben zeigten. Sie schienen die Wächter des Ortes zu sein, von blinder Energie erfüllt, erstarrt in Dauerhaftigkeit.
    »Ich habe den Berg bestiegen und meinen Eltern den größten Schrecken ihres Lebens eingejagt.«
    »Hast du etwas Verbotenes getan?«
    Er lachte vor sich hin; doch ich sah an der Straffheit seiner Schultern, daß sein Gleichmut nicht ganz echt war.
    »Der Berg trägt den gleichen Namen wie das Dorf: Miwa. Er gilt als Himorogi – als Wohnsitz der Götter. Er ist nur achthundert Meter hoch. Oben am Hang fließt eine Quelle aus einer Höhle und bewässert die Reisfelder im Dorf. Beim Fest des
    ›Setzens der Reisstecklinge‹, zu Beginn der Regenzeit, segnet der Priester das Wasser, und die Bauern singen und tanzen zu Ehren des Bachs.«
    »Soll ich mit dir auf den Berg klettern?«
    »Er ist ja eigentlich nur ein Hügel.«
    »Heute?« fragte ich.
    »Nein, lieber morgen. In zwei Stunden geht die Sonne unter.«
    »Macht es deinem Vater nichts aus, wenn Besuch kommt?«
    »Im Gegenteil! Er ist neugierig auf dich.«
    »Ich will ihm keine Mühe machen.«
    »Durchaus nicht. Rie ist am Wochenende immer bei ihm. Sie hat einen Freund in Kyoto. Eigentlich wollten sie heiraten, aber jetzt, da mein Vater krank ist, warten sie.«
    Um uns herum dehnte sich das Land, von Wasserläufen durchzogen. Wälder schmiegten sich an die Höhenzüge, und in den Obstgärten reiften Pfirsiche und Pflaumen. Das Dorf Miwa bestand aus einigen gewundenen Straßen, von alten Holzhäusern gesäumt, meist einstöckig und verwittert; einige hatten Wellblechdächer, scharfkantig und verrostet. Im ersten Stock lebte die Familie, unten befanden sich kleine Lebensmittellä-
    den, Werkstätten oder schummrige Bratküchen mit dürftigen Tischen und Bänken. Daneben standen Getränke- und Zigaret-tenautomaten. Laternen aus rotem Plastik baumelten an Stangen. Ein paar alte Frauen trugen noch Getas, die traditionellen Holzsandalen, die auf dem Asphalt klapperten. Alles wirkte schmucklos, bescheiden. Das änderte sich plötzlich, als wir den Dorfkern verließen. Ein gepflasterter Weg schlängelte sich zwischen Mauern aus weißgetünchtem Mörtel. Ziegelwellen, türkisfarben oder grün, leuchteten auf wuchtig geschwungenen Dächern. Auch die Torbögen und die Mauern waren mit Ziegeln eingefaßt. Manche Torflügel aus schwerem Holz standen offen; die Sonne neigte sich schon, und das milde Licht beleuchtete große, gepflegte Gärten. Hier beschatteten Zwergkie-fern moosbewachsene Zierfelsen, Sträucher und Büsche wuchsen in gewollter Form und Dichte. Sämtliche Wege waren sauber geharkt, die Garagen für zwei oder drei Wagen gemacht.
    Kunio sah mein verdutztes Gesicht und grinste.
    »Miwa ist ein kleines Nest, aber die Nudelhersteller pflegen einen aufwendigen Lebensstil. Naomi wohnte in dem Haus da, gleich links, das inzwischen verkauft wurde. Auch die Bauern haben Geld, obwohl sie angeblich von Subventionen leben.«
    Die Straße schwenkte ab; wir fuhren zwischen Obstgärten und Wiesen, bis ich zwei Häuser sah, die innerhalb einer Um-zäunung unter Fichten standen. Kunio hielt am Wegrand, hinter einem kleinen Wagen. Er stellte den Motor ab; wir stiegen aus.
    Beide Häuser – ein großes und ein kleines – waren in einer Talsenke gebaut; ein schmaler Weg führte zu einem schmiedeeisernen Tor. Das große Haus, weiß getüncht, wirkte modern und geräumig, mit einem Vordach aus massivem Gebälk. Das Kleine war eine Holzkonstruktion, die etwas schief stand. Die Ziegel waren an einigen Stellen zersprungen oder mit Moos überwuchert. Die Dachrinne bedeckte Grünspan.
    »Dort lebt jetzt meine Großmutter«, sagte Kunio. »Das Haus ist nicht sehr bequem, aber sie will es nicht renovieren lassen.
    Sie sagt, im Alter wird man anspruchslos.«
    Ein Obst- und Gemüsegarten lehnte sich an einen Hang.
    Ganz in der Nähe rauschte ein Bach. Kunio zog am Riegel, stieß das Tor auf. Der Hof war mit Kies bestreut und nur mit ein paar Ziersträuchern bepflanzt. Aus einem Bambusrohr tröpfelte ein schmaler Wasserstrahl in einen kleinen, steinernen Trog. Auf der anderen Seite des Hofes befanden sich zwei schlichte, grau getünchte Gebäude.
    »Die Werkstätte und die Unterkunft für die Gesellen«, sagte Kunio.
    »Arbeitet dein Vater noch?«
    »Jeden Tag, darin ist er entsetzlich stur. Nach zwei Schlaganfällen! Aber er hat die Gesellen entlassen.

Weitere Kostenlose Bücher