Seidentanz
Schuhregal. Wir ließen unsere Schuhe im Eingang stehen. Kunio ging voraus. In der Wohnung war die Luft frisch und kühl, weil das Fenster einen Spalt aufgezogen war. Es war mit einem Shôji – der üblichen Papierwand – versehen. Dahinter befanden sich eine Glasscheibe, die jetzt zurückgezogen war, und ein ganz feines Netz zum Schutz gegen die Insekten. Auch hier bestand der Wohnbereich aus einem einzigen Raum, der aber bedeutend größer war als meiner. Die eine Seite hatte Parkettfußboden; die andere, mit schwarzgeränderten Tatami-Matten ausgelegt, diente als Schlafzimmer.
Das Bettzeug wurde tagsüber in einem eingebauten Schrank verstaut. An den Wänden stapelten sich Regale, vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften und Kassetten. Der Fernseher war klein, ein altmodisches Modell. Auf dem Arbeitstisch mit dem Drehsessel stand ein Computer, daneben ein Drucker und ein Fotokopierapparat. Ansonsten war das Zimmer nur spärlich möbliert: zwei Korbstühle mit Kissen, ein niedriger Tisch. Ein ziemlich pompöses Schrankgebilde – französische Imitation –
teilte die kleine Küche vom übrigen Raum ab. Alles war vorhanden: Herd, Eisschrank, Mikrowelle, Kaffee- und Geschirr-spülmaschine. Gleich neben dem Eingang führte eine Glastür ins Badezimmer. Ich nickte anerkennend.
»Du hast mehr Ordnung als ich.«
Er kicherte.
»Ich habe aufgeräumt, damit du mir nicht davonläufst.«
Ich trat ans Fenster; durch den offenen Spalt sah ich ein paar Büsche und Baumbusstauden; Vögel zwitscherten.
»Wie ruhig es hier ist! «
»Solange Frau Watanabe nicht übt.«
Er erklärte mir, daß viele japanische Wohnhäuser über zwei Eingänge verfügen. Der Grundgedanke war, daß die Eltern, sobald der Sohn oder die Tochter verheiratet waren, sich in den kleineren Wohnbereich zurückzogen und der neuen Familie die größeren Räume überließen.
»Aber der Professor und seine Frau haben keine Kinder.
Bloß Tora-chan.«
Er ging in die Küche, ließ Wasser in den Kessel laufen und stellte ihn auf die Platte.
»Wann hast du beschlossen, wieder nach Japan zurückzukehren?« fragte ich.
»Eines Tages bekam ich einen Brief von meiner Mutter. Ein langer, wunderschön geschriebener Brief. Sie berichtete über alles mögliche. Daß es ihr nicht gutging, erwähnte sie nur beiläufig. Aber ich merkte instinktiv, daß etwas nicht stimmte.«
Er öffnete eine Teedose.
»Magst du Pflaumentee?«
»Ich weiß nicht, wie der schmeckt.«
»Das wirst du gleich merken.«
Er holte zwei Becher aus dem Schrank.
»Übrigens… irgendwann muß ich es dir ja wohl sagen. Ich war mal eine Zeitlang verheiratet. «
Ich starrte ihn an.
»Mit einer Amerikanerin?«
Er nickte.
»Sie stammte aus Boston. Aus einer Lehrerfamilie. Wie du siehst, komme ich vom Schulwesen nicht los.«
»Und wie reagierten deine Eltern?«
»Mit Würde. Was blieb ihnen anderes übrig? Ich wollte sie provozieren. Weil sie in ihren äußeren Gewohnheiten konservativer als in ihrer Denkart waren, spielte ich den Extremisten.
Die Provokation lag auch auf Marions Seite, und zwar im gleichen Maße. Sie hatte Krach mit ihren Eltern und suchte einen Eklat. Leider sind wir Japaner die denkbar schlechtesten Vorzeige-Exoten. Uns kommt es nicht einmal in den Sinn, daß wir welche sein könnten. Auf dumme Fragen reagieren wir überheblich. Mir wurden eindeutig zu viele gestellt.«
Der Kessel zischte leise. Kunio spülte die Teekanne heiß aus, schüttete das Teepulver in ein kleines Sieb und goß kochendes Wasser darüber.
»Die Ehe hielt keine zwei Jahre. Als der Brief meiner Mutter kam, wohnten Marion und ich schon getrennt.«
»Hast du Kinder?«
»Zum Glück nicht. Marion stellte auch keine finanziellen Ansprüche.«
Er stellte die Kanne und die zwei Becher auf ein Tablett. Wir setzten uns in die niedrigen Sessel.
»Und wie ging es weiter?«
»Durch die Heirat war ich in den Besitz der Green Card gekommen. Ich hätte also in den Staaten bleiben können. Ich fragte mich, was tun? Die Sache mit meiner Mutter beschäftigte mich. Je länger ich darüber nachdachte, desto unruhiger wurde ich. So beschloß ich, nach Japan zurückzukehren, um selbst zu sehen, was ich von Boston aus nicht beurteilen konnte. Nach Jahren der Trennung sah ich also meine Eltern wieder.
Es war im Dezember, und ich war von Nara aus mit einem Taxi gekommen. Ich entsinne mich, wie der Wagen im Dämmerlicht den alten, gewundenen Weg hinauffuhr, zum Platz unterhalb des Schreins, wo unser Haus steht.
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