Seidentanz
ins Nachbarhaus. Wir hatten uns daran gewöhnt, nachts das abgerissene dumpfe Feuer der Widerstandskämpfer von dem ununterbrochen knatternden der Besatzungsmächte zu unterscheiden. Die Zeit stand still. Ich wartete. Wir warteten. Ich konnte nicht zur Schule gehen. Als einzigen Lesestoff hatte ich ein altes Lexikon. Ich las das Lexikon von A bis Z. Nicht eigentlich befriedigend, aber immerhin ein Zeitvertreib. Es dauerte nicht lange, da kannte ich sämtliche Worte und ihre Bedeutung.
Nach Neujahr wurde es bitterkalt. Der Himmel war tiefblau, alle Bäume waren verschneit, eine Märchenlandschaft; eine Bäuerin lieh uns einen Schlitten. Iris und ich bewarfen uns im Birkenwald mit Schneebällen. Wir fuhren mit dem Schlitten den Hügel hinunter. Iris trug eine selbstgestrickte rote Mütze; ihre Augen und Wangen glühten, sie leuchtete in der weißen Kälte wie ein warmer Vogel. Das waren Augenblicke, die wir brauchten, in denen wir neue Kräfte schöpften. »Sei tapfer, Lea«, hatte Amos gesagt. Ich versuchte es, aber es war entsetzlich schwer, fast zu schwierig für mich. Tage und Wochen vergingen. Der Widerstand wurde heftiger; das Kriegsklima verschärfte sich. Die Deutschen setzten frische Truppen ein.
Hunderttausende verließen die Städte. Überall auf den Straßen zogen Kolonnen verstörter, verängstigter Flüchtlinge entlang.
Der Mensch war zum wilden Tier geworden; Amos hatte recht: Es gab keinen Gott. Wir konnten nur so tun, als ob er existierte.
Im Rundfunk herrschte Zensur, aber die Flüchtlinge brachten beängstigende Nachrichten. Alle Juden mußten ein besonderes Kennzeichen tragen, den gelben Davidstern. Ganze Familien verschwanden über Nacht, wurden in Lastwagen gestoßen, fortgebracht – wohin, wußte keiner. Man sprach von Internie-rungslagern, flüsterte Namen: Chelmno, Auschwitz, Treblinka.
»Ganze Familien?« widersprach mein Großvater. »Unsinn!
Die verhaften nur die Jungen, bringen sie in Arbeitslager.«
Daraufhin hielt er uns einen Vortrag über den planvollen Einsatz von Lagerhäftlingen.
»Natürlich nehmen sie Erschießungen vor. Ordnung muß sein. Und Krüppel und Körperbehinderte würden ihnen zur Last fallen.«
»Und die Frauen?« fragte Iris, mit Hohn in der Stimme. Über die Frauen wußte mein Großvater wenig zu sagen.
»Sie müssen kochen und sich um die Wäsche kümmern«, meinte er unbestimmt. »Und auf dem Feld arbeiten, wahrscheinlich.«
Ich stellte mir all diese Frauen vor, gebückt, die Erde absu-chend, mit krummen Rücken.
Opas blasse Lippen standen leicht offen; ein weißer Spei-chelfaden trocknete auf seinem Kinn.
»Ich bin alt«, murmelte er, »mich werden sie in Ruhe lassen.«
Er war nur noch ein Haufen Knochen in zerschlissenen Kleidern. Tante Hannah jammerte, sie würde keine Feldarbeit verrichten, sie nicht. Einflußreiche Verwandte würden ihr schon helfen. »Aber sicher«, sagte Oma ruhig, »wenn sie nicht unterdessen nach Kartoffeln graben!« Sie hatte vieles an Kraft und Stattlichkeit verloren, aber sie war die starke Hand, die uns hielt.
Der Frühling kam und kam nicht; noch im März lag tiefer Schnee; wir hatten keine Heizung, nur den Ofen. Licht spendete nur eine Karbidlampe. Unser Schlafzimmer glich einem Eispalast. Die Fenster hatten Eisblumen, und an den Wänden funkelte es von lauter kleinen Sternen – das Zimmer war sehr feucht, sogar das Waschwasser war morgens gefroren. Ich war oft erkältet, hustete nächtelang. Iris hatte starke Schmerzen im Nacken und zwischen den Schultern. Einmal war sie eine Woche lang krank; sie hatte hohes Fieber, ich spürte nachts, wie sie glühte. Das Fieber stieg und fiel immerzu und blieb auch später noch monatelang. Wenn ich an früher dachte, kam es mir vor, als wäre es zu Urgroßmutters Zeiten gewesen: Münster, unsere schöne Wohnung an der Promenade; mein Vater, der so gut mit mir spielen und lachen konnte. Die Spaziergänge im Schloßgarten, die Ausflüge zur Wasserburg, meine Ballettstunden bei Dore Stein. Und jetzt? Was war das nur für ein Leben!
Ich konnte nicht ständig in unseren vier Wänden sitzen. Ich brauchte Luft, Bewegung. Manchmal summte ich vor mich hin und tanzte auf der Straße, drehte mich zu den Klängen imaginä-
rer Musik. »Du verrückte Jüdin!« riefen die Bauernkinder. Ein Junge warf einen Stein nach mir; er traf mich an der Schulter und tat weh. »Benimm dich nicht so auffällig! « warnte mich Tante Hannah.
Von Amos keine Spur. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
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