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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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schimpfte Opa und sprach davon, ihn auf die Straße zu setzen. Aber jetzt war die Zeit gekommen, da ich die Dinge, die Amos betrafen, nie mehr so sah, wie ich sie bisher gesehen hatte. Ich knirschte mit den Zähnen, gab mich taubstumm; ich war zu jung, um für Amos zu kämpfen. Man hätte meinen Kampf nicht ernst genommen. Noch ein paar stille Tage, die Ruhe vor dem Sturm.
    Nie zuvor hatte ich, nicht einmal andeutungsweise, ein solches Grauen empfunden: das gleiche Grauen, wie Amos es erlebte, ihm auf eigene Art zu entfliehen versuchte. Ich rang mit dem Entsetzen in gleichem Maße wie er. Nach jeder Mahlzeit schloß ich mich im Badezimmer ein, beugte mich über die Schüssel, erbrach mich. »Kind, wie siehst du denn aus!« seufzte Oma.
    Mir war, als müsse ich mir die Haare zerraufen, mich auf dem Boden wälzen und schreien.
    Es gab keinerlei Anzeichen, wirklich nicht. Das, was in den Kanzleien und Oberkommandos besprochen wurde, drang nicht an die Öffentlichkeit. Man heizte den Höllenkessel – und wir merkten es nicht. Die Zeit trieb unaufhaltsam auf den Punkt zu, der es erlaubte, die Voraussetzungen für die Detonation so günstig wie möglich zu gestalten. Als alles bereit war, explodierte der Wahnsinn.
    Die Daten habe ich noch im Kopf, 1. 9. 1939: Einmarsch der deutschen Truppen in Polen. 2. 10.: Erlöschen des polnischen Widerstands. 23. 10.: Das Oberkommando der Wehrmacht erklärt den Feldzug in Polen für beendet. Gefangenenzahl bisher über 450.000, rund 1.000 Geschütze erbeutet. 31. 10.: Die Bewegungen auf die deutschrussische Interessengrenze abgeschlossen. Der Wehrmachtsbericht gab die Zahlen bekannt.
    Von einem Tag zum anderen wurden die Grenzen geschlossen.
    In Danzig wühlten Panzerwagen die Straßen auf; die Stadt war voller Soldaten und Denunzianten.
    Hakenkreuzfahnen flatterten. Die Opportunisten standen hinter der neuen Ordnung. Alle Juden verloren ihren Besitz. Ihr Geld wurde gesperrt. Aus der Linder-Buchhandlung wurde eine
    »Reichsbuchhandlung«. Unser Haus wurde beschlagnahmt.
    Wir standen mit ein paar Koffern auf der Straße. Amos kam mit einem Wagen. Wir stiegen ein. »Das ist nicht deiner«, murmelte Opa. »Wo hast du den her?« Seine Stimme zitterte, er wirkte abwesend, fast benommen. Amos sah geradeaus, antwortete nicht. Sein Profil war ausdruckslos. Wir fuhren durch die bombardierten Außenbezirke. Schleppkähne kamen die Weichsel hinauf. Auf Umwegen brachte uns Amos in ein Dorf, zwei Stunden von Danzig entfernt. Das Dorf lag zwischen Äckern und Birkenwäldern. Abgelegen und strategisch unbedeutend, sagte Amos. Der Vormarsch der deutschen Truppen konzentrierte sich auf die großen Verbindungsachsen. Hier waren wir einstweilen in Sicherheit. Der Abschied war kurz.
    Amos weihte uns nicht in seine Pläne ein. Auf Omas bange Fragen antwortete er lediglich, daß er bei der »Armia Krajowa«
    war. Der Widerstandsbewegung. Der Partisanenarmee. Zu mir sagte er: »Sei tapfer, Lea. Sorge gut für deine Mutter. Sie wird dich brauchen. «
    »Ja. Kommst du bald wieder?«
    »Sobald ich kann. Jedenfalls wird es ziemlich arg werden. Es ist sehr schwierig, ein Land zu besetzen. Das werden wir ihnen jetzt beibringen.«
    Unsere Blicke hielten einander für kurze Zeit fest. Sein Gesicht war starr wie Granit. Doch in seinen Augenwinkeln schimmerte etwas, das ich nie zuvor dort gesehen hatte. Ich fühlte, wie sich alles in mir verkrampfte. Er legte beide Hände auf meine Schultern, drückte sie und wandte sich ab. Er ging auf den Wagen zu und stieg ein. Der Lärm der zugeschlagenen Tür hatte etwas Endgültiges an sich. Bevor er den Motor anließ, zündete er sich eine Zigarette an, warf das Streichholz aus dem Fenster. Dann setzte er das Auto in Bewegung, fuhr den Weg entlang, talabwärts. Ich ging und hob das Streichholz auf. Ich habe es heute noch. Das ist alles, was mir von ihm blieb, dieses Streichholz.
    Irgendwie wuchs damals meine Fähigkeit, durch Wände hin-durchzuschauen. Amos war weit weg; und trotzdem war ich bei ihm, Tag und Nacht, bei ihm in jenem finsteren Bereich der Ruinen, wo geschossen und gekämpft wurde. Wo das Gespenst der Verhaftung umging, der Folterungen und des eisigen Todes.
    Inzwischen waren wir »in der Sommerfrische«, wie Oma es mit trauriger Ironie formulierte. Im Oktober. In einem Zimmer ohne Heizung. Den Bauern war es gleich, ob wir Juden waren –
    sie nahmen unser Geld, das wenige, das uns geblieben war. Ein Zimmer für fünf Personen; zum Schlafen gingen die Großeltern

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