Seidentanz
Großmutter‹
nannte – erweckte immer den Eindruck, daß alles fröhlich und einfach für sie sei. Und das war es auch, soweit es die heitere, elegante Außenseite ihres Wesens anging. Aber das war eben nicht alles. Sie war die einzige, die in mir – bei der Betrachtung ihrer Arbeit – das gleiche Gefühl wie draußen in der Natur erweckte: das Gefühl einer grenzenlosen Weite. Später, als die Eltern väterlicherseits starben und sie in das alte Haus einzog, hatte sie nie etwas dagegen, daß ich mich in ihrem Atelier aufhielt, während sie den Pinsel führte. ›Das ist etwas, das ich täglich übe, Kunio-chan‹, sagte sie zu mir. ›Kalligraphie ist für mich eine Quelle des Wohlbefindens. Unser Körper hat unge-schriebene Gesetze. Darum ist es wichtig, ihn gut zu kennen. Er braucht Disziplin. Sportler trainieren täglich, um ihre Muskeln zu stärken. Ich übe täglich mit dem Pinsel, das ist eine ausgezeichnete Erziehung für mich.‹
In meiner Vorstellung war ›Erziehung‹ ein Wort, das sich auf Kinder bezog. Ich fragte überrascht:
›Mußt du denn immer noch erzogen werden?‹
Sie lachte; und wie sie lachte! Es klang wie ausgeschüttete Silberglöckchen.
›Das hört niemals auf, Kunio-chan. Es gibt tausend Dinge, die wir lernen müssen.‹
›Und mein Vater?‹ fragte ich.
›Ob er noch lernen muß? Ja, selbstverständlich.‹
›Ist er berühmt?‹
Sie überlegte.
›Ja, das sagen die Leute. Er aber sagt, daß er immer noch auf dem Weg ist. Und er muß es ja wissen.‹
›Bist du auch auf dem Weg?‹
Sie nickte.
›Das sind wir alle.‹
›Und wann bist du da, wo du sein willst?‹
›Erst, wenn ich mein Grab bezogen habe, Kunio-chan.‹
Mein Kopf war von ihren Antworten erfüllt, in denen große Gedanken verborgen waren. Aber mir sagten sie damals nichts.
Manchmal sprang wohl in mir ein Verstehen auf, wenn ich einen Gedanken halb begriffen hatte, aber ich war, wie ich schon sagte, traumverloren. Daher geschahen manchmal merkwürdige Dinge. Wenn ihre unversehrte linke Hand ein kräftiges, wirbelndes Ideogramm zog, reagierte ich wie ein hypnoti-siertes Huhn. Der Pinselstrich erfaßte mich, zog mich in schwindelnde weiße Tiefen, einem Mittelpunkt entgegen, kreisend wie ein Strudel. Das schien eine Wirkung auf mich auszu-
üben, denn ich begann heftig zu zittern, bis Hanakos sanfte Stimme mich in die Wirklichkeit zurückholte. Sie wunderte sich nicht über diese ›Anfälle‹, sie sprach auch nicht mit meinen Eltern darüber. Einmal sagte sie: ›Komm, wir üben zusammen!‹ Sie führte meine Hand, die den Pinsel hielt. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Meine Augen waren stets auf weite Entfernung gerichtet, so daß ich die allzu nahen Dinge nicht richtig wahrnahm. Die Kalligraphie war ein Trugbild, über das meine Augen hinwegglitten, tiefer, in die Körner des Reispapiers, die wie eine Schneelandschaft schimmerten. Eine Zeitlang hatte Hanako große Geduld mit mir. Eines Tages jedoch hörte ich, wie sie zu sich selbst sprach:
›Nein, das ist es nicht.‹
In ihrer Stimme klang nicht der geringste Vorwurf; doch irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie mich verwarf, was mich
– im Augenblick – zutiefst kränkte. Aber damals zogen meine Gefühle durch mich hindurch wie Wolken, und schon bald vergaß ich diesen Verdruß. Ich hatte andere Sorgen. Ich war elf, meine Schwester dreizehn. Zwischen uns begann plötzlich eine Zeit des Nichtverstehens. Die Kluft, die uns trennte, erweiterte sich jeden Tag. Rie bevorzugte jetzt die Gesellschaft von Mädchen. Sie blätterte in Modezeitschriften, drehte sich Lok-kenwickler ein, telefonierte stundenlang. In ihrem Zimmer hingen Poster von Rocksängern und Filmschauspielern. Sie fuhr mit Freundinnen nach Nara, bummelte durch Warenhäuser und saß in Eisdielen. Mädchen sind früher reif. Die Art, wie Rie mich betrachtete, kam mir sehr merkwürdig vor; es war, als sähe sie mich aus der Ferne und unter Schatten. Unseren kleinen Hund Jiro sah sie mit den gleichen Augen an. Ich hatte das Gefühl, daß zwischen Jiro und mir eine Verbundenheit herrschte während Rie diese Verbundenheit achselzuckend überging.
Jiro war für sie nur ein Hund; für mich war er ein Teil von mir.
Nach der Schule sprach ich mit Jiro wie mit einem gleichaltri-gen Freund, ich spielte mit ihm, ich lief mit ihm um die Wette.
Ich war sehr einsam in dieser Zeit.
Mein Vater arbeitete täglich in der Schmiede. Er hatte damals einen Lehrling und zwei Gesellen. Den
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