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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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auf der Handfläche dar.
    »Sie kennt mich jedenfalls.«
    »Was wollte sie wissen?«
    »Ob ich jetzt endgültig hier bin.«
    »Und was hast du ihr gesagt?«
    »Daß ich in Nara unterrichte.«
    »Stellt man dir oft solche Fragen?«
    Er seufzte leicht auf.
    »Mit mehr oder weniger Takt. Die alte Dame hat ihre Neugierde im Zaum gehalten.«
    Er schlug den Weg ein, der zum Berg führte. Wir wanderten an Obstbäumen und Bambushainen vorbei. Aus den Reisfeldern stieg Wärme, Libellen schwirrten aufblitzend in der Sonne. Im Gras zirpten Grillen; das Zirpen verstummte, wenn wir vorbeigingen, und begannen gleich darauf wieder.
    »Wohin gehen wir?« fragte ich Kunio.
    Er blinzelte.
    »Du wirst schon sehen.«
    Ein alter Mann rupfte Unkraut. Er trug Arbeitshosen aus Baumwolle, dazu Gummistiefel. Sein runzeliges Gesicht war braun wie Leder. Er grüßte mit einer Verbeugung, die mir feierlich vorkam. Kunio grüßte zurück, lächelnd.
    »Du bist hier ziemlich bekannt«, stellte ich fest.
    »Ja, das mag schon sein.«
    Hinter den Reisfeldern gabelte sich der Fußweg; ein Pfad schlängelte sich den Hügel empor, mit moosigen Steinbrocken bedeckt. Der Wind brachte einen Geruch nach Rinde und warmen Halmen. Die zerzausten Kiefern reckten ihre borstigen Stämme über den Hang, die Büschel der Nadeln bewegten sich in der Luft hin und her. Als wir in den Schatten traten, senkte Kunio unwillkürlich die Stimme.
    »Ursprünglich galten die Berge mit ihren vielen Schluchten und Höhlen als Symbol des Mutterschoßes. Besondere heilige Berge durften nur von Schamaninnen betreten werden. Der Naßfeld-Reisanbau verlangte eine Arbeit im Einklang mit der Natur. Die Schamaninnen wurden verehrt, weil sie auf die Weisheit der Berge hörten und für eine reiche Ernte bürgten.
    Nach und nach verliehen die Waffentechnik und die territoriale Festigung den Männern eine neue Macht, die der Macht der Frauen zunächst gleichkam und sich ihr dann entgegenstellte.
    Die Sage der Prinzessin, die mit dem Schlangengott vermählt wurde, zeigt in verschlüsselter Form die Verdrängung der Frauen aus der sakralen Bergwelt. Ferner berichten zahlreiche Märchen und Legenden, wie Frauen das Tabu brechen, übernatürliche Kräfte gewinnen und sich an den Männern rächen. Im 13. Jahrhundert verbreitete sich der buddhistische Volksglauben Shugendo, dem auch meine Familie angehört, in Japan. Für die Shugendo-Anhänger war das Besteigen heiliger Berge eine religiöse Pflicht – allerdings nur für Männer. Einsiedler zogen sich in Grotten zurück, wo sie in Askese lebten. Man nannte diese Mönche Yamabushi – ›Jene, die in den Bergen träumen‹.
    Im Unterschied zu den Frauen mußten die Männer Disziplin üben, bevor sie es mit der Berg-Gottheit aufnahmen. Andernfalls setzten sie sich einem bösen Angriff aus – wir würden heute sagen: einer Geistesgestörtheit. «
    Das war für mich nichts Neues.
    »Der Einfluß aus der Tiefe wirkt um so heftiger, je stärker die Vernunft diese Schwelle abzuschirmen sucht. Und Männer wollen immer vernünftig sein.«
    »Sie geben sich jedenfalls Mühe.« Kunio grinste und fuhr fort:
    »Das sind alte Geschichten. Heute begeben sich Männer und Frauen gemeinsam auf Pilgerschaft. Aber der psychologische Unterschied bleibt: Die Frau verkörpert die Erdmutter, und der Mann ist neidisch.«
    »Ist dir aufgefallen«, fragte ich, »daß sich Männer auf Volks-festen als Frauen verkleiden – und nie umgekehrt? Ich denke, es ist der unbewußte Wunsch, sich die weibliche Lebenskraft anzueignen. Das ist weltweit so. Merkwürdig, nicht wahr? Aber wir kommen vom Thema ab«, sagte ich und lachte.
    Wir stiegen weiter, den Pfad empor. Der alte Wald wuchs hoch auf, die Kronen schlossen sich dicht zusammen. Nur Krä-
    hen hausten da; ihre urtümlichen Rufe klangen wie die Stimme des Berges. Bald drang ein Plätschern von Wasser an mein Ohr, ganz in der Nähe rieselte ein Bach.
    »Fang an«, sagte ich. »Erzähl mir, wie es war.«
    Er blieb stehen, lehnte sich an einen Felsen; es war sehr ruhig im Wald; nur Bienen summten, und der unsichtbare Bach murmelte und tropfte. Die Grashalme im Schatten waren schlüpfrig und naß; Blätter häuften sich aus dem Herbst vieler Jahre; sie waren schwarz und weich und rochen modrig. Wurzeln umfaßten die Felsen wie knochige Arme. Der Berg war alt, so alt; er strahlte eine mütterliche Geborgenheit aus, etwas Tröstendes. Hier war ein anderer Lebensrhythmus, eine vorzeit-liche Schwingung, die mich mit Ehrfurcht

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