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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Torbögen und goldenen Schiebetüren traten maskierte Schauspieler als Helden, Dämonen und schöne Frauen auf. Geishas tanzten, angetrieben vom Taktschlag der Trommel und Zimbeln. Sie sangen mit schrillen Vogelstimmen, bewegten goldene Fächer, spannten bunte Pa-pierschirme auf zum Schutz gegen die stechende Sonne. Die Wagen schwankten und ächzten. Die Muskeln der Ziehenden spannten sich, sie keuchten und zerrten aus Leibeskräften, während die Menge sie mit rhythmischen Rufen und Händeklatschen anspornte. Geschrei, Gelächter erfüllten die Straßen.
    »Wir leben in Verbundenheit mit diesen Dingen«, sagte Kunio. »Das ist es, was viele nicht wissen: Auf die Verbundenheit kommt es an. Nicht auf strenge Riten, kodifizierte Muster. Das Formelle ist nur die äußere Verpackung. Unsere Götter erlassen weder Gebote noch Verbote. Sie sagen den Menschen: Seid mündig! Tragt eure Verantwortung selbst.«
    Ich lächelte.
    »Viele Menschen sind dieser Freiheit nicht gewachsen. Sie macht ihnen angst. «
    »Shinto ist eine Religion der Zukunft«, sagte Kunio. »Der Mensch lebt ja nur seit einer Sekunde im Kosmos. Seine endgültige Bestimmung erreicht er erst dann, wenn er weit, unendlich weit über sich selbst hinauswächst. Aber die Götter sind geduldig. Sie stehen am Ende des Weges und rufen ihn.«
    Kunio sprach viel, und er sprach gut; unser vertrautes Zu-sammensein hatte die letzten Spuren seiner Zurückhaltung getilgt; er merkte, daß ich ihm gerne zuhörte. Ich liebte seinen Blick, der ernst war und plötzlich so übermütig aufleuchten konnte; aber seine Stimme liebte ich fast noch mehr. Sie war ruhig und gedämpft, etwas kehlig, mit Schwingungen, die aus dem Herzen kamen. Er kann sich nicht verstellen, dachte ich, er wäre der schlechteste Schauspieler gewesen. Alles, was er dachte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er übersetzte für mich die japanische Tagespresse, sprach von Protektionismus und Bodenspekulation, kommentierte den Inhalt politischer Sendungen im Fernsehen. Kein neuer Himmel und keine neue Erde, nein, sondern aufpoliertes Formelhandwerk für Macht-hunger und Eigennutz. Die Konkurrenzwut der Großkonzerne gehörte ebenso dazu wie die Bestechungsgelder der Politiker, die Gier der Finanzhaie, die Verschlagenheit der Unterweltbosse. Das große Welttheater, wie überall, mit dem Unterschied vielleicht, daß abstrakte Ideen hier schlecht ankamen.
    »Weil wir von verbaler Logik nicht viel halten und gefühlsmäßigen Bindungen den Vorrang geben«, sagte Kunio. »Der Bürger kehrt die Außenseite heraus, ein unpersönlicher Aspekt, und läßt sich nicht täuschen.«
    »Willensfreiheit bleibt nebelhaft«, sagte ich, »solange wir uns in irgendeiner Weise aufgerufen fühlen.«
    Er blinzelte mir zu.
    »Und was verstehst du unter Willensfreiheit?«
    Meine Antwort kam schnell und sicher. »Den Weg wählen, den wir gehen wollen. Nie im gesteuerten Trab und stets außerhalb der Herde.«
    »Ich bin dir auf der Spur«, sagte er.
    Das Schreinfest rückte näher; das Bugaku-Ensemble kam dreimal in der Woche zusammen. Die Übungen zogen sich bis spät abends hin. Die Hitze machte die Menschen schlapp und träge, aber die Sonne sank früh, und die abendliche Kühle weckte frische Kräfte. Wenn Sagon alle inneren Schiebetüren aufzog, entsprach die Spielfläche genau der der offenen Bühne.
    Die Schulkinder hatten Ferien; morgens half Kunio seinem Vater in der Werkstatt, nachmittags fuhr er zu mir nach Kyoto.
    Er kam mit dem Zug oder mit dem Wagen; wenn ich mit dem Ensemble probte, saß er geduldig am Rand der Vorhalle und lauschte auf die Klänge des Orchesters, beobachtete die Schatten der Tänzer, die sich wie Scherenschnitte auf dem Reispapier abzeichneten. Er gestand, daß er meinen Schatten auf der perlmutterglänzenden Fläche nie aus den Augen ließ. Sagon und Aiko waren sehr erfreut, Kunio zu sehen. Sie begrüßten ihn mit zwangloser Liebenswürdigkeit, erkundigten sich nach dem Befinden seines Vaters. Im Besuchszimmer waren alle Türen offen; ein kühler, angenehmer Luftzug wehte durch den Raum.
    Ein großes Moskitonetz aus grüngefärbten Hanffäden hing an kurzen Schnüren von den Ecken der Zimmerdecke hinunter und schloß den ganzen Raum ab. Das Netz duftete nach frischem Sommergras; hinter den feinen Maschen schimmerten die Bü-
    sche und Bäume im Lila der Abenddämmerung. Aiko ließ den schaumigen, wunderbar herben Tee bringen; wir saßen auf indigoblauen Sommerkissen. Der Priester und seine Frau

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